"Ich lüg' furchtbar ungern"

■ Und wenn er niemals Kanzler würde? "Ich wäre erleichtert", sagt Wolfgang Schäuble. Bettina Gaus über den Fraktionschef der Union und die vollendete Kunst der Mehrdeutigkeit

Auf der Bühne des großen Düsseldorfer Capitol-Theaters sitzt ein Meister des Minimalismus. Ruhige Stimme, sparsame Gesten. Wenn er einem Satz Nachdruck verleihen will, dann schlägt er nicht mit der Faust auf den Tisch. Er klopft nur leicht mit dem Knöchel auf die Platte. Es gibt Redner, die ein Hinterzimmer in ein Stadion verwandeln können. Wolfgang Schäuble macht einen Saal zum Wohnzimmer.

Der Fraktionschef der Union träufelt seine Botschaft lieber in die Ohren des Publikums als sie hineinzubrüllen. Ein polnischer Hochschullehrer sei bereit, Erdbeeren zu pflücken, sagt er leise in seinem gemütlichen badischen Dialekt. Deutsche Arbeitslose wollten das nicht. Denen tue das Kreuz weh. „Wenn sie Kürzungen bei der Sozialhilfe in Kauf nehmen müssen, dann werden die Rückenschmerzen abnehmen.“ Ganz mild und sanft kommen die Sätze daher. Der 55jährige liefert den Stammtischen Munition. Aber er setzt sich nicht dazu.

Manchen reicht das noch nicht. Der Ton kühler Sachlichkeit enttäuscht Erwartungen. Einige wünschen sich mehr Stimmung im Saal. „Sie sind kein dreifacher Ehebrecher!“ ruft einer aufmunternd, als Schäuble von Unterschieden zwischen sich und dem SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder spricht. Der Redner tut, als habe er nichts gehört. Ein anderer schreit mit bitterböser Stimme Gehässigkeiten gegen „grüne Pastoren“ und „Kirchenasyl“. Da reagiert Schäuble: Ganz recht, auch er habe viel Verständnis für Mitleid in Einzelfällen, sagt er begütigend, als sei soeben die Ausweitung des Asylrechts gefordert worden.

Mit einem ganz leichten Lächeln in den Mundwinkeln gibt er später zu, den Zwischenrufer absichtlich mißverstanden zu haben. „Ich heize nicht an. Nicht die Stimmung gegen Ausländer.“ Der Mensch in seinem Widerspruch: Staatliche Leistungen kommen bei Schäuble vor allem im Zusammenhang mit ihrem Mißbrauch vor. Er zeigt selten Mitgefühl mit Schwächeren. Aber zugleich setzt ausgerechnet der Mann, der das Grundrecht auf Asyl in eine leere Hülle verwandelt hat, heute auf Veranstaltungen sein rhetorisches Geschick gegen ausländerfeindliche Töne aus dem Publikum ein. Ist da einer über die Auswirkungen seiner Politik erschrocken? Fühlt er sich inzwischen mitschuldig an brennenden Asylbewerberheimen? „Nein. Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Diejenigen, die den Asylrechtskompromiß verzögert haben, haben Schuld auf sich geladen.“ Schäubles Welt stimmt.

„Das Bad in der Menge mute ich mir nicht zu“

Oder doch nicht so ganz. Er bleibt lange bei diesem Thema. Es sei problematisch. Bei manchen eigenen Sätzen sei ihm nicht wohl, so etwa, wenn er von der Pflicht zur Integration spreche. Andererseits dürfe nicht der Eindruck entstehen, er habe keine Ahnung von der Wirklichkeit. „Die Leute müssen das Gefühl haben: Der versteht uns.“ Sonst werde die Gefahr von Ausländerfeindlichkeit nur noch größer. Gibt es in seinen Augen noch ein Recht auf Asyl? Er räumt ein, „daß wir's im Augenblick nicht schaffen, im Einzelfall großzügig zu sein“. Da verwechselt der Jurist nun allerdings Gnade mit Recht. Versehentlich oder mit Bedacht? Wolfgang Schäuble gibt im Gespräch bereitwillig Auskunft, und dennoch verführen viele seiner Antworten zur Suche nach verborgenem Hintersinn. „Man kann sich auf sein Wort hundertprozentig verlassen“, hat einmal eine Fraktionskollegin über ihn gesagt und hinzugefügt: „Allerdings muß man sich genau vergewissern, was sein Wort tatsächlich ist.“ Dem stimmt Schäuble zu. „Ich lüg' furchtbar ungern. Deshalb versuche ich, so genau zu formulieren, daß das dann auch gilt.“ Wen würde er eher auf eine einsame Insel mitnehmen – einen aufrechten Dummkopf oder einen intelligenten Bösewicht? Er zögert lange. „Wahrscheinlich wäre ein aufrechter Dummkopf ein bißchen arg langweilig.“

Da untertreibt er. Den intellektuellen Streit führt Schäuble nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern mit Leidenschaft. In dieser Hinsicht ist er ein Spieler. Ganz unauffällig versteckt er eine Provokation in einem scheinbar harmlosen Satz und schaut mal, was passiert. Relativ unbekannte Namen nennt er in einem Tonfall, als seien sie selbstverständlicher Bestandteil jeder Halbbildung. Dann wartet er ab. Gibt sein Gegenüber zu, von einem Thema keine Ahnung zu haben, lacht er plötzlich ganz offen und ungezwungen: „Ich auch nicht.“ Als Sieger kann er Großmut zeigen.

Gelegentlich ruft die fein ziselierte Spitzfindigkeit des Fraktionschefs Sehnsucht nach einem dreisten Lügner hervor. Dem läßt sich wenigstens manchmal etwas nachweisen. Schäuble nie. Er hat es in der Kunst der Mehrdeutigkeit zur Vollendung gebracht. Helmut Kohl präsentiert sich im Bundestagswahlkampf siegesgewiß. Sein Kronprinz sagt in Düsseldorf: „Es ist vollkommen klar, daß die CDU die Wahl gewinnen muß.“ Im Applaus geht unter, daß er über die tatsächlichen Chancen seiner Partei damit nichts gesagt hat.

Die Beschäftigung mit der Person von Wolfgang Schäuble gleicht dem Spiel mit einer dieser russischen Holzpuppen, in denen immer noch eine neue, kleinere Figur verborgen ist. Und dann ist da dieser verdammte Rollstuhl. Unerbittlich schiebt er sich bei dem Versuch einer Einschätzung immer wieder ins Bild und verstellt den Blick. Welchen Einfluß hat die Querschnittslähmung auf die Entwicklung von Schäubles Persönlichkeit? Welche Begleiterscheinungen der Behinderung sind Privatangelegenheit, welche bei einem möglichen Regierungschef von allgemeinem Interesse? Die Auseinandersetzung mit Schäuble ist auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Befangenheit.

Sein Problem ist das nicht. Er hat sich in den knapp acht Jahren, die seit dem Attentat vergangen sind, in seinem neuen Leben eingerichtet und den souveränen Umgang mit dem Thema gelernt. Vorbei die Zeit, in der er mit verbissenem, angespanntem Gesichtsausdruck jede Entfernung so schnell wie irgend möglich überwand, die Räder mit wütender Kraft voranstoßend. Heute hält er auch mal auf freier Strecke an und erträgt Kameras ohne schützenden Tisch zwischen sich und den Fotografen.

Auf die Behinderung und ihre Folgen angesprochen zu werden, scheint ihm eher willkommen als unangenehm zu sein. Im letzten Jahr hat er selbst im Stern das Tabu gebrochen und die Frage aufgeworfen, ob „ein Krüppel“ Kanzler werden könne. Der Vorstoß war ein Erfolg. Das Thema ist seither regelmäßig Bestandteil der Berichterstattung über den CDU-Politiker. Die Öffentlichkeit gewöhnt sich.

Die CSU, die Schäuble nie als Nachfolger Kohls akzeptieren wollte, könnte ihn heute nicht mehr verhindern. Allzu hoch sind seine Popularitätswerte. Dabei sind der Begegnung mit dem Volk Grenzen gesetzt: „Das Bad in der Menge mute ich mir nicht zu, zumal ich ja beide Hände für den Rollstuhl brauche. Fürs Händeschütteln muß ich jedes Mal anhalten.“ Der Weg durch die Massen ist ihm unangenehm. „Jeder klopft Ihnen von oben auf die Schulter. Die meinen's gut, die wollen lieb sein – aber trotzdem.“ Für einen Mann wie Wolfgang Schäuble muß es eine quälende Erfahrung sein, erzwungene Nähe erdulden zu müssen. Er achtet auf Abstand.

„Kohl weiß, daß ich ihn niemals bescheiße“

Formen und Rangordnungen haben für den CDU-Politiker einen hohen Stellenwert. Leutselig spricht er auf einer Veranstaltung Matthias Wissmann mehrfach mit Vornamen an. Der scheint zu wissen, daß Vertraulichkeit im Umgang mit seinem Fraktionschef eine Einbahnstraße ist: „Ja, Herr Dr. Schäuble, lieber Wolfgang“, antwortet der Verkehrsminister artig. Aber dessen Wunsch, daß Respekt die Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen bilden möge, erschöpft sich nicht in Formalitäten. Als Demokraten bezeichnen ihn in Bonn auch politische Gegner. Schäuble kann Kritik nicht nur austeilen, sondern auch ertragen. Die Meinungsfreiheit ist für ihn sakrosankt.

Es ist merkwürdig, daß sich das von jemandem sagen läßt, der Neuem und Fremdem mit so viel Argwohn begegnet wie Wolfgang Schäuble. Über den Wunsch nach Reisen in ferne Länder spricht er mit verständnisloser Verachtung. Die Gleichstellung anderer Lebensformen mit der traditionellen Ehe hält er für einen Verstoß gegen den Wertekanon des Grundgesetzes. Sein Mißtrauen gegen spielerische Kreativität und Phantasie ist groß: „Weil der Reichstag eben nicht irgendein Gebäude ist, sollten wir mit ihm gerade keine Experimente veranstalten“, sagte er im Bundestag in der Debatte über die geplante Verhüllung des Gebäudes durch Christo.

Heimat statt Karibik, deutsche Schicksalsgemeinschaft statt multikultureller Gesellschaft, ein unübersehbarer Hang zu Pietismus und Rechtgläubigkeit: Wie konnte ausgerechnet Wolfgang Schäuble zum Hoffnungsträger der Jünger einer nicht näher bestimmten „Moderne“ werden? Vielleicht weil er lernfähig ist. Früher hat er dem Umweltschutz eine allenfalls untergeordnete Bedeutung beigemessen. Heute verlangt er eine höhere Besteuerung des Energieverbrauchs. Die Einsicht in die Notwenigkeit, „Ökonomie und Ökologie miteinander zu vereinbaren“, gehört mittlerweile zu seinen festen Redebausteinen. Originell ist das nicht. Aber die Wandlung ist immerhin groß genug, um es notwendig erscheinen zu lassen, Schäuble immer mal wieder genau zuzuhören.

Für seinen Geschmack wird gelegentlich allzu genau hingehört. Von einer „Hysterie“ der Medien sprach er in der letzten Woche. Anlaß waren Spekulationen über seine Interviewäußerung, Helmut Kohl habe „ein Stück weit offengelassen“, was er in den kommenden vier Jahren tun wolle. Dumm gelaufen: Zeitgleich sagte der Kanzler, er trete für die ganze Legislaturperiode an. Mitten im Wahlkampf entstand so der Eindruck eines öffentlich ausgetragenen Kampfes um die Macht – und Schäuble sah plötzlich aus wie einer, der seinem Freund und Gönner den Stuhl wegziehen will. Der Regierungschef hätte ihm da heraushelfen können. Aber er schwieg.

„Helmut Kohl weiß, daß ich ihn niemals bescheiße“, hat Schäuble einmal gesagt. Gilt das auch umgekehrt? „Der Helmut Kohl bescheißt nicht. Der nimmt nur in Maßen Rücksicht auf andere, aber das kann man, wenn man Kanzler ist, auch nur sehr begrenzt.“ Punkt. Mehr will der Fraktionschef zu dem Thema nicht sagen. Wie groß wäre seine Enttäuschung, wenn er niemals Kanzler würde? „Ich wäre erleichtert.“ Er lacht kurz auf, zuckt die Schultern und schneidet möglichen Einwänden das Wort ab: „Das ist halt so.“ Noch im letzten Jahr hat er zugegeben, der Versuchung wohl nicht widerstehen zu können. Wenn seine Wahrheitsliebe so groß ist wie er sagt, dann muß in der Zwischenzeit einiges passiert sein.