Samurai im Reich der Zeichen

■ Akiro Kurosawa ist tot. Im Osten mißverstand man ihn, im Westen waren seine Filme eine Offenbarung. Bei keinem Regisseur der Welt gibt es so umwerfend schöne Bilder von geschlagenen und hoffnungslosen Menschen

Samurai im Reich der Zeichen

Akira Kurosawa – sein Name ist Zeichen und Erinnerung eines ganz anderen, längst vergessenen Kinos: eines Kinos der Meister. In den Zeiten, als man noch auf einen neuen Film von ihm wartete, ging man mit dem Gefühl ins Kino, sich einer existentiellen Erfahrung, einer philosophisch- ästhetischen Lektion auszusetzen. Es war ein Hunger nach der Erkenntnis einer Innenansicht der Welt im Kino. In Kurosawas Filmen war etwas zu haben, was es in der westlichen Kultur zu dieser Zeit einfach nicht gab, eine Klarheit und Leere, eine Reinheit, die sich auch die bedeutendsten Filmemacher Europas und Amerikas immer wieder verbauen mußten. Kurosawa-Filme waren wie durchsichtig, sie zeigten in einer souveränen Geste, daß das Kino genau das ist, was es scheint: das Bild auf der Leinwand.

Akira Kurosawa ist in einer sehr traditionellen japanischen Lebenswelt aufgewachsen – und hat zugleich deren Zerfall erlebt. Als Kendo-Schüler, dem der Vater die langwierige und schon damals als „sinnloser“ Luxus erscheinende Ausbildung in der Kalligraphie ermöglichte, konnte er den Untergang seiner eigenen Kultur nur als Künstler überleben. Seine Erfahrungen von Kindheit an sind Katastrophen und Verluste, das Erdbeben im Jahr 1923, der Selbstmord des älteren Bruders, der Krieg, den der als untauglich Gemusterte erst im letzten Aufgebot kurz vor dem Kriegsende erlebte.

Nie gibt es in der Geschichte dieses Künstlers einen Moment der Ruhe, eine Versöhnung mit seiner Gesellschaft. Der Student der „westlichen Malerei“ engagiert sich für proletarische Kunst und Politik, beginnt nach dem Krieg als Drehbuchautor. Seine ersten Filme in eigener Regie gefallen weder den japanischen Behörden noch denen der amerikanischen Besatzungsmacht. „Rashomon“ wird 1951 als erster japanischer Film mit einem Goldenen Löwen in Venedig und mit dem Academy Award für den besten ausländischen Film ausgezeichnet. Es ist dieser eine Film, der der westlichen Welt vermittelt, daß es ein japanisches Kino gibt.

Dieses Mißverständnis führt dazu, daß man Kurosawas Filme in beiden Kulturen mißversteht. Als hätten sie eine japanische und eine westliche Maske. Daß Kurosawa in der Folgezeit weiter Preise und Festivalerfolge im Westen erzielt, macht ihn in Japan nicht populärer. Mitte der sechziger Jahre gibt es für ihn in seiner Heimat keine Arbeitsmöglichkeiten mehr, aber auch seine Versuche mit dem amerikanischen Kino scheitern. Was mag geschehen sein, daß er seinen Beitrag zu dem Kriegsfilm „Tora! Tora! Tora“! (1968) selber zerstörte, daß aus seinem Drehbuch zu „The Runaway Train“ erst viel später der Film eines anderen Fremden in Hollywood werden konnte? Dann gibt es den Versuch einer künstlerischen Heimkehr. Der Zusammenschluß der vier Regisseure Kobayashi, Kinoshita, Kurosawa und Ichikawa zu einer Produktionsgesellschaft („Club der vier Ritter“) macht die Herstellung von „Dodes'kaden“ möglich. Der Film wird ein weiterer ökonomischer Mißerfolg, und Kurosawa unternimmt 1971 einen Selbstmordversuch. Danach haben seine Filme einen anderen Ton; es sind Filme, die vor der Welt nicht mehr erschrecken, sie haben den Tod schon in sich. Kurosawa hat, beginnend mit „Uzala, der Kirgise“, ein betörendes, unbehaustes Filmwerk über die Einsamkeit geschaffen. Sie geben das Schicksal eines Künstlers wieder, der seine Kultur verloren hat und keine neue finden will und kann.

Beides zusammen, die Erinnerung an eine vollendete Kultur und die Erfahrung der Entfremdung, ergibt weder die nostalgische Erschaffung eines Paradieses, aus dem man immer wieder vertrieben werden muß (wie bei John Ford), noch die Projektion der Einsamkeit in die negative Theologie (wie bei Bergmann). Kurosawa akzeptiert die Welt, seine einsamen Menschen schreien weder zu Gott noch zu uns um Mitleid. Und es ist nicht die Gewalt, auch nicht der Krieg, der als eigentliche Zerstörungskraft erscheint, als vielmehr die falsche Rechtfertigung, die Produktion der Ideologie. Was uns also an Kurosawas Filmen, unter anderem, so faszinierte, war, daß hinter allem Moralisieren und Räsonieren, hinter der Konstruktion der Transparenz für die filmische Fabel und hinter der kalligraphischen Bearbeitung der aufs Fundamentale reduzierten literarischen Vorlage noch etwas ganz anderes zum Vorschein kam: ein archaisches, gewalttätiges Bild des Menschen in seiner Welt, das heftig dem widersprach, was an Welt- und Menschenbildern wir in der Nachkriegsgesellschaft zu produzieren gewohnt waren: die Passion, das Melodrama, der psychologische Realismus.

Kurosawas Filme waren für das europäische Publikum eine Offenbarung, weil sie die Form hervortreten ließen. Sie mißtrauen der linearen Autorität des Inhalts und machen den Zweifel an der Erzählung zum Thema. Kurosawas Filme sind wie Kristalle, durch die man auf die Welt blickt. Jede Bewegung bedeutet, ein vollkommen anderes Bild von ihr wahrzunehmen. Und während man noch sieht, wie eines dieser Bilder schöner als das andere ist, erkennt man schon, daß man aus der Illusion der Geschichte vertrieben ist.

In Kurosawa-Filmen sieht man zu, wie aus dem Leben Zeichen werden, und wie diese Zeichen, in all ihrer Schönheit und Perfektion, keine Lösung für das Leben sind. Denn Filmen wie durch einen Kristall, das bedeutet auch, daß keines der Bilder „die Wahrheit“ aussagt. Was uns die Filme von Akira Kurosawa so lange gelehrt haben, war das Gegenteil der abendländischen Utopie von der Einheit von Philosophie und Ästhetik. Und so waren sie, wie die Filme von Bergmann, Ray oder Ford ganz anders und mit ihnen doch verbunden; auch Filme, die etwas zu tun haben mußten mit der politischen und kulturellen Revolte in den westlichen Gesellschaften der späten sechziger Jahre. Bergman erzählte in seinen Filmen von dem Gefängnis Familie, Religion und Gesellschaft; Ford erzählte von der Heimat und davon, wie sie wieder verloren wurde, Ray erzählte vom schweren Weg ins Leben. Kurosawa aber war der Philosoph des Zweifels. Bei keinem Regisseur der Welt gibt es so umwerfend schöne Bilder von vollkommen geschlagenen und hoffnungslosen Menschen, Menschen, die auf einer Schaukel im Schnee ein letztes Mal das Leben spüren, Menschen, die todgeweiht ein Lied anstimmen, Menschen, die sich auf dem blutigen Schlachtfeld noch einmal in der Geste ihrer Größe inszenieren.

In Kurosawas Filmen sind die harmonisch komponierten Bilder stets Ausdruck des Zweifels an der Welt, und je schöner die Bilder sind, desto weniger verläßlich sind sie. Wahrscheinlich ist auch seine Rolle im transkulturellen Dialog nicht so einfach, wie man es gerne hätte. Es gehört zu den Allgemeinplätzen der Kinogeschichte, daß Kurosawa einerseits westliche Literatur in japanische Dramen überführt, andererseits westliche Genres maßgeblich beeinflußt habe: den Western durch seine Filme wie „Die sieben Samurai“, die Sozialtragödie von „Ikiru“ bis „Dodes'kaden“. Das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist, daß Kurosawa ihnen den Ballast klammheimlicher Erlösungen austrieb, an den wir uns in unserer Kultur gewöhnt haben. Und nicht den Western hat Kurosawa beeinflußt, sondern sein Gegenteil, jene Art von Filmen, die an die Mythen des Genres nicht mehr glauben, verschmutzt wie John Sturges' „Die glorreichen Sieben“ (nach „Die sieben Samurai“), manisch wie Martin Ritts „Carrasco, der Schänder“ (nach „Rashomon“) und exaltiert wie Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar“ (nach „Yojimbo“). Die Westerner sind in diesen Filmen so absurd wie Kurosawas Samurai am Zusammenprall zwischen Ritual und Berechnung.

Nur vom Ende her erscheint der transkulturelle Dialog über die Ästhetik von Akira Kurosawa so offen und eindeutig. Immer schon hat der Regisseur im westlichen Ausland mehr Unterstützung erhalten als in Japan, und vieles von seinem Spätwerk konnte nur durch die Mithilfe seiner amerikanischen Bewunderer realisiert werden: Ein visionäres Kino, das vom Zerfall der Kulturen handelte, vom Chaos der Geschichte.

Daß er noch Filme mache, erklärte der 83 Jahre alte Kurosawa 1993 in Cannes damit, daß die Filme seiner Lehrer Naruse, Ozu, Mizoguchi in Vergessenheit gerieten und er ihren Blick bewahren wolle. Je mehr er sich von Japan entfernte, desto stärker wurde Japan in seinem Herzen, und je mehr er versuchte, nach Japan zurückzukehren, desto fremder begegnete ihm seine Heimat. „Westlich“ nannte man seine Filme hier, weil sie unpassend und störend waren. So also blieb nur die Bewahrung des Blicks. Nicht das Bild, nicht die Geschichte, nicht der Mythos. Welch schöne und schwere Aufgabe, beim Filmemachen ebenso wie beim Nachdenken über das Kino: einen Blick zu bewahren. Wer wird den Blick bewahren von Akira Kurosawa, geboren 1910, gestorben 1998, lebend als Wandernder, wie ein Samurai im Reich der Zeichen, ein Künstler, der nie in seinem Leben ein eigenes Haus besessen hat.