Göttliche Aussichten

■ Von oben betrachtet: Das Focke-Museum zeigt „Perspektiven deutscher Fotografie 1926-1994“

Brücken sind nervig. Zwingen sie uns doch dazu, uns mangels alternativer Fahrmöglichkeiten im obligatorischen Stau hinten anzustellen. Kreuzungen sind natürlich auch nervig. Wimmelt es dort doch von roten Ampeln, stinkigen Autos und genervten FußgängerInnen. Und immer dann, wenn man eine kleine Ewigkeit lang auf das Grünsignal wartet – Murphys Gesetz ist da gnadenlos – beginnt es selbstverständlich zu regnen oder zu schneien. Und nun stelle man sich vor, in diesem Augenblick stünde man neben einem Menschen, der von der berührenden Schönheit einer verschneiten Straßenkreuzung oder der atemberaubenden Ästhetik einer gigantischen Brücke schwärmte. – Na gut: Sowas passiert nie. Aber vielleicht liegt es nur daran, daß Sie bisher nur direkt neben sich und damit an der falschen Stelle nach diesen Typen Ausschau gehalten haben. Denn solche Menschen stehen natürlich nicht mit beiden Beinen auf dem Boden, sondern schweben mit beiden Beinen hoch oben in der Luft. So hoch, bis sie wie Anton Stankowski das Gewirr an feinen Linien überblicken können, das die Autoreifen dunkel und zart in den weißen Schnee gedrückt haben. Oder noch ein Stückchen höher wie Otto Umbehr, bis eine gigantische Brücke aus grauem Beton, gewaltigen Pfeilern und armdicken Stahlseilen wie ein fragiles, schwebendes Leichtgewicht erscheint.

Nach der „Viertel“-Schau nun also Fotos von Überfliegern – die zweite Ausstellung im neu geschaffenen, sonnendurchfluteten Sonderausstellungsraum des Focke-Museums widmet sich nicht nur Stankowski und dem bekannten Hannoveraner Bildjournalisten und Fotolehrer Umbehr, sondern weiteren 30 deutschen FotografInnen aus der Zeit von 1926 bis 1994, die aus der Vogelperspektive durch die Kameralinse auf die Welt geblickt haben. 100 Fotos hat der Rotenburger Realschullehrer, Gale-rist, Fotokenner und -sammler Gerd Schnakenwinkel dem Focke-Museum zur Verfügung gestellt. 100 Bilder, die anschaulich belegen, daß eine winzige Veränderung mitunter große Effekte erzeugen kann, daß allein der simple Wechsel der Sichtweise selbst dem einfachsten Gegenstand, der banalsten Szenerie neue Aspekte abgewinnen kann.

Von oben reizten die ausgestellten FotografInnen beispielsweise vor allem die geometrischen Strukturen, die in Natur und Architektur zu entdecken sind. Ackerlandschaften, Industriebauten, Straßenpflasterungen und Wegeskreuzungen sind die immer wiederkehrenden Bildsujets. Aus der Vogelperspektive verlieren sie jedoch ihre inhaltliche Bedeutung. Formal-graphische Elemente gewinnen die Oberhand. Das Spiel mit Licht- und Schatteneffekten – besonders eindrucksvoll auf den Fotos von New Bauhaus-Begründer Moholy-Nagy oder den Stadtimpressionen von Heinrich Heidersberger und Alfred Ehrhardt.

Auf Victor von Brauchtischs mehrteiliger Fotoserie „Adlerwerke“ schlucken amorphe Öl- und Teerflecken die strenge Ordnung des Industriegebäudes. Rudi Torunskis Aufnahmen von Wattriffelungen und Muscheln hingegen üben ebenso wie Heinz Jürgen Gerkes „Ackerbilder“ – einige der wenigen Farbfotos – den Blick in einer geradezu meditativen Bildbetrachtung. Einer der Jüngsten, mit vier Aufsichtarbeiten im Focke-Museum vertreten, ist Tristan Vankann, regelmäßigen LeserInnen dieser Zeitung bestens vertraut.

Das nächste Mal also, wenn Sie mal wieder genervt an Ampel oder Brücke stehen, desinteressiert durch Straßenschluchten und Felder laufen, wagen Sie ruhig mal einen Blick nach oben. Vielleicht hängt dort jemand mit einer Kamera herum und ist verzückt von diesem Anblick. zott

Die Ausstellung „Von oben herab. Perspektiven deutscher Fotografie, 1926-1994“ ist bis zum 27. September im Sonderausstellungsraum des Focke-Museums zu sehen