Haltgemacht, kurz vor dem Schrei

■ Bremer Musikfest: Nikolaus Harnoncourt dirigierte in der Glocke die Missa solemnis

Der französische Dirigent René Leibowitz, einer der wichtigsten Vorreiter neuerer Beethoveninterpretation, sagte, die Beethovenschen Vorschriften seien „radikal zu lesen“. Nicht nur die Dirigenten der historischen Aufführungspraxis haben sich das seit Jahren zu Herzen genommen und nach der „Religion der Streicher“ (wie Rudolf Kolisch den philharmonischen Einheitssound bekämpfte) die Pausen, Akzente, Lautstärkegrade und vor allem die Tempi so hart und kontrastreich hingestellt wie sie wahrscheinlich gemeint waren.

Daß die Aufführung der „Missa solemnis“ beim diesjährigen Musikfest in dieser Hinsicht zu einem ersten, großen Höhepunkt werden konnte, der nicht wenigen HörerInnen die Tränen in die Augen trieb – dies eine sachliche Referierung der Fakten! – , liegt am Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, dem Chamber Orchestra of Europe und dem Arnold Schönberg Chor Wien.

Die „Missa solemnis“ op. 123 in D-Dur (1819-1823) ist ein Schwesternwerk der großen neunten Sinfonie, in der ins Finale Revolu-tionsmusik einzieht. In der „Missa“ stehen den drei Friedensevokationen des „Dona nobis pacem“ der mit Pauken und Fanfaren gestaltete Einbruch von zwei Kriegsepisoden gegenüber, Beethoven titelt den Satz: „Mit der Bitte um inneren und äußeren Frieden“. Während ein Arturo Toscanini auf dieser Basis aus dem Werk mit zum Teil aberwitzigen Tempi geradezu ein Revolutionsfanal macht, dem Werk so die liturgischen Grundlagen entzieht, nimmt Harnoncourt den Beethovenschen Rekurs auf die traditionellen Formen durchaus ernst. So blieb der Chor gezähmt, obwohl er an der obersten Leistungsgrenze sang – was das Kippen in den Schrei provoziert, der in der neunten Sinfonie stattfindet. Von Mißtrauen gegenüber dem kirchlichen Meßtext ist diese Interpretation nicht getragen, sondern von einer ungemein erregenden und überzeugenden Auseinandersetzung mit der Tradition, die ja konstitutiv für den späten Beethoven ist.

Da sind einmal die überdimensionalen und nicht enden wollenden Fugen, da ist die berstende Fülle barocker rhetorischer Figuren: ganz tief – auf dem Boden sozusagen – „et in terra pax“, „Pater omnipotens“ als eine herabstürzende Undezime, die heraufbrausende Tonleiter für „et ascendit“ oder auch die aus höchsten Höhen herabsteigende Violinstimme – Christus kommt zu den Menschen – im Benedictus.

Harnoncourts fast kammermusikalische Transparenz erlaubt auch heute noch den Nachvollzug dieser topoiartigen Bilder, vor denen Theodor W. Adorno so ratlos stand. Brüche und Kontraste entstehen bei Harnoncourt durch eine perfekt umgesetzte Genauigkeit der Interpretation. Ton und Charakter wechseln entsprechend den Sätzen: nichts schien das andächtig mächtige Kyrie stören zu wollen – Beethoven überschrieb es „Von Herzen, möge es zu Herzen gehen“ – , und doch bricht dann ein gewaltiges, fast executiertes Gloria aus. Angst besetzt die Menschen im „Agnus Dei“, um dann im friedlichen Dreiertakt an das „Dona nobis pacem“ wieder zu glauben. Harnoncourt nennt das alles, bindet es aber in einen schlüssigen und überzeugenden Kosmos, findet immer wieder geradezu erregende Gegensätze eben innerhalb eines übergreifenden Atems.

Ohne Tadel der Arnold Schönberg Chor und das Chamber Orchestra of Europe, jenes selbstverwaltete und selbstfinanzierte Orchester, das aus „fünfzig MusikerInnen aus fünzehn Ländern besteht und sich 150 Tage pro Jahr“ trifft. Außerordentlicher aber das SolistInnenquartett mit Ruth Ziesak, Bernarda Fink, Herbert Lippert und Neal Davies. Vibratoloses Strömen und warmes, charakteristisches Timbre bei allen, darüberhinaus eine Homogenität, die genau diesen Ausdruck als einen hilflos schwachen Beschreibungsversuch entlarvt: das war perfekt und zutiefst ergreifend.

Ute Schalz-Laurenze