Der Unterschied zwischen Ereignis und Katastrophe

■ Wissenschaftler beraten über bessere Prognosen für Fluten, Stürme und Erdbeben

Potsdam (taz) – In Mexiko Stadt entscheiden 60 Sekunden darüber, ob ein Naturereignis zur Naturkatastrophe wird. Denn so lange dauert es, bis die Schockwellen eines Erdbebens im Epizentrum vor Mexikos Küste sich bis zur 350 Kilometer entfernten Hauptstadt vorgearbeitet haben. Solche Vorhersagen rechtzeitig zu machen, daran arbeiten unter anderem die 350 Forscher aus 70 Ländern, die seit gestern auf der Frühwarnkonferenz EWC '98 in Potsdam ihre Erkenntnissen austauschen. Denn egal ob eine Sturmflut, ein Wirbelsturm, Dürren oder Vulkanausbrüche, eine rechtzeitige Vorhersage kann die Zahl der Todesopfer und oft auch Sachschäden erheblich verringern.

In Mexiko Stadt etwa kostete das Erdbeben vom September 1985 offiziell 10.000 Menschen das Leben. „Es gibt viele inoffizielle Hinweise, daß es sogar 20.000 Tote waren“, erzählt Erdbebenforscher Juan Manuel Espinosa Aranda. „Das Epizentrum des Bebens ist 300 Kilometer von Mexiko Stadt entfernt, das gibt uns eine Minute Zeit, davor zu warnen.“ Das ist nicht viel, aber Zeit genug für die Einwohner, um im Haus einen sicheren Platz zu suchen, um Gaszufuhren zu schließen oder den Strom abzuschalten. „Einmal im Monat üben bei uns die Schüler, richtig zu reagieren“, erzählt Espinosa Aranda. Die Vorhersage von Sturmfluten und Vulkanausbrüchen stehen in Potsdam ebenso auf Tagesordnung wie der Einsatz von Satellitenbeobachtungen.

Rund 130.000 Menschen sterben jedes Jahr an Naturkatastrophen, schätzen Rotes Kreuz und Roter Halbmond, 60 Prozent davon durch Dürre. Und immer wieder bringen die Sachschäden durch Wirbelstürme und Fluten auch Versicherungen an den Rand des Ruins: Der Hurrikan Andrew verursachte 1992 einen Versicherungsschaden von 15,5 Milliarden Dollar – sieben Versicherer wurden dadurch insolvent. Andererseits können Dürrekatastrophen in Afrika die Existenz von Millionen von Menschen ruinieren, schlagen aber nur mit einigen Millionen Mark Schaden zu Buche.

Veranstalter der EWC sind die Vereinten Nationen, die diese Dekade (1990–1999) zur „Internationalen Dekade der Nationalen Katastrophen-Verringerung“ (IDNDR) erklärt haben. „Das Bekämfen von Naturkatastrophen ist noch nicht selbstverständlich“, sagt IDNDR-Direktor Philippe Boulle, „wir wollen begreiflich machen, daß ein Naturereignis noch lange keine Katastrophe werden muß.“ So sei die Vorhersage des vergangenen Klimaphänomens El Niño hervorragend gewesen, doch nur wenige Regierungen hätten sich auf die folgenden Dürren und Unwetter eingestellt.

Es müssen nicht gleich Erdbeben oder Sturmfluten seien. So habe Süd-Korea einen besonders milden Winter erlebt, der auch von den Meteorologen vorhergesagt worden sei, erzählt der IDNDR- Direktor. Trotzdem wurden die Hinweise ignoriert und wie gewohnt massenhafte schwere Winterkleidung hergestellt. „Die Firmen blieben darauf sitzen“, sagt Boulle, „und gingen Bankrott.“

In seiner Eröffnungsrede gestern auf der EWC warnte auch Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) vor immer häufigeren und immer schwereren Naturkatastrophen. Vor allem die Bevölkerungsexplosion und die zunehmende Umweltzerstörung setzten immer mehr Menschen einem „unverantwortlichen Katastrophenrisiko“ aus. Kleine Fortschritte, wie die Einrichtung von Schutzbauten gegen Überflutung, wo die Bewohner von Bangladesh derzeit vor dem Hochwasser flüchten könnten, seien ermutigend. Kinkel forderte weltweite Frühwarnsysteme und ein internationales Notfallmanagement.

Freilich haben nicht nur Entwicklungsländer Defizite: Auch das Hochwasser in Brandenburg vor einem Jahr zeigte drastisch, daß es noch erhebliche Defizite bei der Wasserstandsvorhersage für die Oder gibt. Matthias Urbach