Knospen zwischen Friseurstühlen

■ „Der Aal“: Preisgekrönter Film über ein besonderes Tier im Menschen im Kino 46

Wer gewisse Hafenareale Bremerhavens liebt oder bestimmte Gewerbegebiete von Oldenburg, der wird zweifelsohne auch Shohei Imamuras „Der Aal“ Bild für Bild genußvoll aufschlabbern. Zwar rückt die Kamera in den ersten fünf Minuten hautnah an hauptstädtisches High Tech ran, an Büro-PCs, U-Bahnen, schwarze, steife Krawatten und zahlenverfallene Mienen – als hätte sie heimlich zu viel Chris Marker geguckt. Dann aber wagt sie sich hinaus in die Zwischenwelt vor den Toren Tokios, wo ein futuristisches Müllauto vor paradiesischen lila-rosa Blumen unter telegrafenverdrahtetem Himmel ruht; den unteren Bildrand bildet ein Und-ruhig-fließt-der-Fluß. Die Stimmung der Bilder deliriert sehr seltsam zwischen Natur-, Dorf- und Industrieidyll; die Stimmung des Films noch viel seltsamer zwischen sensiblem Psychogramm, geschnitten durch surreale Fantasieschnipsel, und heiterer Dorfsatire mit dezent durchgeknalltem Personeninventar. Man trägt Mundschutz und lechzt nach UFOs. Und wenn ein Dutzend Leute sich kloppen, fehlt nur noch Laurel & Hardys Tortenwurf.

Ursache des Ortswechsels von der Stadt aufs Halbland: Herr Yamashita metzelte seine Frau in flagranti nieder. Wir sehen das mit Pasolinischer oder Hanekescher Widerwärtigkeit durch ein blutbespritztes Kameraobjektiv. Nach acht Jahren Knast beginnt der Ex-Manager ein neues Scheinleben als Dorffriseur. Bald sprießt eine neue Liebe. Doch der Verschämte, Verhärmte hält das Gewächs in Dauerknospenzustand.

Der „Falke“ dieser Novelle ist ein Aal. In den totalen Gefühlsstreik getreten, kommuniziert Herr Yamashita fast nur noch mit diesem verschwiegenen, bewegungsfaulen Stück Fleischröhre. Vor allem aber wird der Aal eingesetzt als Metapher für ein anderes Zeitgefühl: 2.000 km schwimmt er alljährlich, um seinen Laich abzulegen, und stirbt bisweilen. Nicht weniger Zeit und überdies auch noch ein Menschenleben kostet es, bis sich Herr Yamashita durchringen kann zu seiner Liebe ohne Eifersucht, Selbstbestätigungswahn und Verlustangst. Am Ende muß er noch mal ein Jahr in den Knast. Die neue Frau wartet: Was ist schon ein Jahr gegen die Entbehrungen der Aale.

Der Film ist fast ebenso verdruckst wie sein Held. Obwohl er in Seitenarmen des Geschichtsflusses jede Menge Fleisch lustvoll stöhnen läßt, verweigert er den ersehnten Erweckungskuß aus dem seelischen Tiefschlaf des Mörders in nachgerade bösartiger Art und Weise. Essenspäckchen für Essenspäckchen lang und Geschenk für Blumenstrauß müssen wir die Erfolglosigkeit der Kontaktanbahnungsversuche der Frau ertragen. Die Mühlen der Seele mahlen eben langsam; das lehrt der (fast ein bißchen religiöse Film) zu akzeptieren – untermalt von Tempelgongs.

Natürlich ist Imamura Ozu-Schüler. Wie bei Ozu kräuseln sich subtile emotionale Wellen hinter dem Allerweltsgeplauder über Essen und Wäschewaschen. Übrigens: Acht Jahre (Seelenknast?) sind vergangen seit Imamuras letztem Film (welcher über Hiroshima weint) bis zur Geburt des neuen Filmbabys. Cannes Patengeschenk war die Goldene Palme 1997. „Gebäre mir ein gesundes Kind“ sagt Herr Yamashita am Tag seiner Neuverhaftung. Er meint damit den Embryo eines anderen, und er meint es versöhnlich, wie in Schönbergs „Verklärter Nacht“. Und Nacht ist ganz oft in diesem Film. B. Kern

Kino 46, Do-Sa, 20.30 Uhr, So-Di, 18.30 Uhr