„Deutschland, Deutschland...“

■ Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) kam und sprach auf dem Marktplatz. 9.000 Bremer jubelten und stimmten das Deutschland-Lied an

Dieser Mann zieht die Massen an. Am Montag abend, kurz vor 20 Uhr, strömen die Menschen auf den Bremer Marktplatz. Etwa 9.000 zählt die Polizei. Sie wollen hören, was der Kanzler zu sagen hat. Das Blitzgewitter der Fotografen verrät Helmut Kohl (CDU). Mühsam, von Bodyguards umgeben, kämpft er sich durch die Menge. Ab und an bleibt der Bundeskanzler stehen und schüttelt Hände. Ein violettes Luftballon-Paar steigt in den Himmel und fliegt davon. Irgendwo in der Menge weht einsam eine rote PDS-Fahne. Aus der Menge erhebt sich ein Transparent. „Bremen grüßt Helmut Kohl.“

Begleitet von dem Gejohle einiger Protestler sorgt ein Konzert von Trillerpfeifen auf dem hinteren Teil des Marktplatzes für Unruhe. Kohl begrüßt die Demonstranten: „Ich sage auch ein herzliches Willkommen zu denen, die unsere politischen Gegner, aber Demokraten sind. Und die nicht hierher gekommen sind, um mit den Mitteln der Straße und des psychischen Terrors diese Versammlung zu stören. Und um gleich die Bedingungen klarzumachen: Sie können ruhig schreien. Die Lautsprecher sind in Ordnung, und ich bin für solche Schlachten erprobt.“ Gelächter. „Ich bin ja ganz froh, daß wenigstens eine rote Fahne hier ist“, fährt Kohl fort. „Denn rote Fahnen sieht man jetzt nur noch auf Kuba, und das ist ein auslaufendes Modell.“ Applaus. Kohl findet warme Worte für Bremen. Bremen sei „ein Stück köstliche Zugabe im Reigen der deutschen Bundesländer“, schwärmt der Kanzler. „Die Stimmen, die da sagen: ,Was brauchen wir ein eigenständiges Bremen', mögen verstummen“, mahnt er. „An mir wird es nicht liegen. Wo ich Ihnen helfen kann, werde ich Ihnen helfen“, verspricht Kohl. „Helmut, Helmut“, ruft das Publikum und klatscht.

Kohl schlägt die Brücke, zum „Haus Europa“. „Frieden in Europa ist unteilbar“, ruft er. „Deshalb ist es wichtig, daß Deutschland, unser Land, ein Hort der Stabilität bleibt... Das wir sozusagen als Fels in der Brandung stehen.“ Die bevorstehende Bundestagswahl am 27. September sei eine „Richtungswahl“. Die SPD wolle eine rot-grüne Koalition. „Und wenn es der Wähler zuläßt, mit Unterstützung der kommunistischen PDS. Das ist die Wahrheit... Alles andere ist Propaganda, um den Menschen die Sinne zu vernebeln“, warnt der Kanzler. „Kommunisten, das sind rotlackierte Faschisten, und an diesem Satz hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert.“ Ein Ei fliegt durch die Luft und trifft die Musiker, die vor der Bühne sitzen. Es sei eine Schande, daß die SPD die PDS nun an die Macht in Bonn heranführen wolle. „Es darf keinen Preis geben, auch nicht der Preis an die Macht zu kommen, der in einer solch' bitteren Weise mit der Erfahrung aus unserer Geschichte umgeht.“ Die letzten Worte Kohls gehen im Jubel unter. Aus Angst vor neuen Attaken ziehen sich die Musiker Plastikplanen über die Knie.

Als Kanzler der Bundesrepublik brauche man „Mut, Entschiedenheit und Klugheit“, lobt Kohl sich selbst. Nur so habe er es auch geschafft, die deutsche Einheit herbeizuführen. „Wir haben alle Chancen, weil wir erkennen, das wir auf dem richtigen Weg sind. Einen Weg, der Zukunft hat“, beschwört Kohl die Menge. Unzählige CDU-Fähnchen wedeln dem Kanzler zu. „Helmut, Helmut“, ruft ein Chor. „Der Aufschwung ist da“, ruft der Kanzler zurück. Die Trendwende am Arbeitsmarkt sei nicht zu übersehen. Im September würde die Zahl der Arbeitslosen unter vier Millionen sinken, verspricht er. Pfiffe. Ein rotes Gewerkschafts-Transparent flattert im Wind. „Aufhebung aller Verschlechterungen durch die Kohl-Regierung“, steht darauf. Und: Lohnfortzahlung gesetzlich wieder 100 Prozent.“

„Wer da schreit, braucht keinen Aufschwung“, sagt Kohl in Richtung der Demonstranten. „Für die zahlt Vater Staat, oder der eigene Vater zahlt alles.“ Die Menge jubelt. Wenn die Protestler „das soziale Netz“ genug strapaziert hätten und eines Tages arbeiten und Abgaben zahlen müßten, würden „sie das Schreien einstellen, und CDU wählen“, ist sich der Kanzler sicher. Damit ist Kohl bei den „Trittbrettfahrern“ angelangt. „Wir brauchen alle in Deutschland, die guten Willens sind und arbeiten wollen und das Land nach vorne bringen“, ruft er der jubelnden Menge zu. „Es muß uns doch nachdenklich stimmen, wenn wir bei vier Millionen Arbeitslosen gleichzeitig über anderthalb Millionen unbesetzte Stellen haben.“ Die letzten Worte des Bundeskanzlers gehen in einem Konzert aus Applaus und Pfiffen unter. „Wir haben eine Minderheit in unserem Land, die eigentlich arbeiten könnte, aber die die Arbeit nicht annimmt, weil sie sich mit dem Begriff der Zumutbarkeit durch das Netz der sozialen Sicherheit hindurchschwindelt als Trittbrettfahrer.“

Kohl bemüht ein Beispiel „aus dem richtigen Leben“: „Sie wissen so gut wie ich, daß in Ihrer Stadt auch morgen früh Männer und Frauen sich in aller Hergottsfrühe auf den Weg machen, ihre Schichtarbeit beginnen und Steuern und Abgaben bezahlen. Und in der gleichen Straße ist dieser oder jener, der versteht es, sich zu drücken. Der läßt sich eben nicht einfangen, weil das Netz so ist. Und der geht dann zwei Tage die Woche schwarzarbeiten. Und am Wochenende treffen die sich, und dann passiert etwas, das nicht passieren darf. Daß der Anständige, der Steuern bezahlt hat, schlechter dabei wegkommt, wenn er sein Portemonnai öffnet, als der, der das Ganze betrogen hat.“ Applaus donnert über den Platz. „Wir brauchen Männer und Frauen, die sich was zutrauen. Wir brauchen Leistungseliten“, beschwört Kohl die Menge. Die jüngere Generation müßte sich ein Beispiel an der älteren nehmen. „Auf dem Weg von der Discothek nach Hause“ sollten „die Jungen“ die Gelegenheit ruhig mal nutzen, um darüber nachzudenken, „was der Opa oder die Oma da geleistet hat.“ Die Menge klatscht.

„Die haben den Karren aus dem Dreck gezogen. Die waren nicht wehleidig, sondern haben gesagt, wir packen's“, lobt Kohl. Vor allem die sogenannten Trümmerfrauen, haben es dem Kanzler angetan: „Diese Frauengeneration gehört zu den Besten, die etwas für unsere Geschichte bewirkt hat. Die sind morgens nicht aufgestanden und haben gesagt, was steht heute an, in der Abteilung Selbstverwirklichung. Sie sind aufgestanden und haben gefragt, wie können wir unsere Kinder großziehen... Das ist eine Generation, die unsere Sympathien und Zuweisungen braucht. Deshalb muß die Rente für diese Generation auch in Zukunft sicher bleiben“, sagt der Kanzler und bedauert, daß die Deutschen wie die Italiener immer weniger Kinder kriegen.

Nach anderthalb Stunden ist Kanzler Helmut Kohl mit seiner Rede am Ende. CDU-Landeschef Bernd Neumann tritt ans Mikrophon: „Ich möchte Sie bitten, sich von ihren Plätzen zu erheben und mit uns das Lied der Deutschen zu singen“, sagt er. Die Menge gehorcht. Und kurz darauf schallt es über den Platz: „Deutschland, Deutschland...“

Kerstin Schneider