■ Vorschlag
: Fotografien von Helen Levitt in der Berliner Festspielgalerie

Die Motive bewegen sich in einem engen Rahmen. Zielstrebig baut sich die Reihe mit 69 Aufnahmen von Helen Levitt als Erzählung auf: Schwarze Kinder spielen im Harlem der vierziger Jahre, italienische Kinder toben derweil durch Brooklyn; in den achtziger Jahren üben sich hispanische Jugendliche als Türsteher in der Bronx, andere spielen im Innenhof Basketball. Daneben entwickeln sich schüchterne Beziehungen zwischen pummeligen Mädchen und segelohrigen Jungs, später sieht man auch verbitterte afroamerikanische Frauen, die gramgebeugt über die Straße huschen. Und immer wieder stehen verbeulte Autos mit eingeschlagenen Windschutzscheiben am Rinnstein, trübe Spiegelbilder der langsam den Bach runtergehenden Metropole New York.

Für solcherart Szenen aus dem Alltagsleben wurde Ende der dreißiger Jahre das Genre der Straßenfotografie geprägt. Als Catherine David letzten Sommer auf der documenta diese Art ehrlich dargestellter Wirklichkeit gegen alle digitalen Spielereien thematisieren wollte, waren Helen Levitt und Walker Evans ihre stärksten Belege für eine Fotografie als Lebenszeugnis. Dabei halfen die historischen Verweise vor allem, den Weg der Bildfindung hin zu den hochkonzeptuellen Low-class-Arrangements Jeff Walls nachzuzeichnen: vom Elend der Gosse ans Licht der medialen Aufklärung. Natürlich spielte auch eine gewisse Nostalgie für die authentische Sicht des Lebens und der Dinge mit. Levitts unglaublich freundlich herüberschauende Kids in ihren zerrupften Hosen sind in der Tat Bilder für eine verlorene Unschuld – auch eine der Haltung gegenüber Fotografie. Daß Levitt selbst in intimen Momenten den Personen naherücken konnte, lag an einem Trick. Mit dem Winkelsucher ausgerüstet konnte sie jede Spontaneität quasi aus dem Hinterhalt der Apparatur abbilden. Nur wenige Aufnahmen gehen indes auf den direkten Blickkontakt mit der Kamera zurück. Heute müßte man vermutlich jedes Lächeln irgendwelcher HipHop-Kids teuer bezahlen. Für die 1913 in Brooklyn geborene Levitt war Fotografie zunächst ein Gewerbe. In den frühen dreißiger Jahren arbeitet sie bei einem Porträtfotografen in der Bronx. Erst nach einer Begegnung mit dem Franzosen Henri Cartier-Bresson entscheidet sich Levitt für den künstlerischen Weg. 1938 wird sie Assistentin von Walker Evans, der mit ihrer Hilfe seine Ausstellung „American Photographs“ im Museum of Modern Art organisiert. Fünf Jahre später hat sie im gleichen Haus ihre erste Einzelausstellung. Vermutlich lag ihre Art, Zuversicht selbst in der Armut zu dokumentieren, damals im Trend: Schon Mitte der dreißiger Jahre hatte die Fotografin Dorothea Lange von Roosevelt höchstpersönlich den Auftrag bekommen, Arbeitslose und Tagelöhner auf dem Lande zu fotografieren, damit eine größere Öffentlichkeit im Zuge des New Deal über das Auseinanderdriften der amerikanischen Gesellschaft informiert wurde. Danach bricht ihre Karriere ab: Levitt wechselt als Cutterin zum Film und schreibt 1965 mit ihrem Mann Alfred Lewis Drehbücher für Disney-Komödien. Erst 1970 beginnt sie wieder verstärkt zu fotografieren, diesmal in bestechenden Ektachrome-Farben.

Seit ihrer Wiederentdeckung auf der documenta blüht zumindest der Markt für Levitts Fotografien mit Retrospektiven und Sammelbänden neu auf. Das Interesse der mittlerweile 85jährigen an diesem Boom ist allerdings eher gering: Als ihre Bilder im Frühjahr im Frankfurter Kunstverein gezeigt wurden, lehnte sie eine Flugreise zur Eröffnung aus Altersgründen ab. Ohnehin hat Levitt New York in ihrem ganzen Leben nur einmal verlassen, um in Mexiko an einer Fotoreportage zu arbeiten. Das Ergebnis war angeblich enttäuschend. Für die Berliner Station während der Festwochen hat sie dagegen ein Grußwort mitgegeben: „Glauben Sie nicht dem Wort, glauben Sie den Bildern.“ Harald Fricke

Bis 4. 10., täglich 10 – 18 Uhr, in der Festspielgalerie, Budapester Straße 48. Katalog (mit allen Abbildungen), 110 Seiten, 29 DM