■ Schlagloch
: Die Spur der Mönche Von Mathias Greffrath

„Wir wollen nicht alles

anders machen, aber vieles

besser“ Gerhard Schröder

Wir standen im Klostergarten und blickten in die Milchstraße. Und einer sagte: „Die hier haben das doch eingerührt, diese Benediktiner: ora et labora, Arbeit zur Ehre Gottes, Welt verändern... Wenn die jetzt sagen würden: Wir sind Mittäter, wir wollen dafür sorgen, daß wir da wieder rauskommen – was hätten die für Zulauf, jetzt, nach dem Ende des Kommunismus. Und was hätten die für Möglichkeiten.“

Der junge Mönch im Kreuzgang lächelte leise: Es werde erst noch schlimmer kommen. „Die Welt ist kaputt“, sagte er und nach einer langen Pause: „Ganz kaputt.“ Nein, an Politik zu glauben, hat er lange aufgegeben, ebenso wie die Drogen und das mit den Frauen. Aber was tun mit der Verzweiflung? Erst hat er Jesus gefunden, und nun beschwört er mit einem guten Dutzend Brüder fünfmal am Tag im Chorgebet die Liebe Gottes. Kein social gospel, sondern der Weg nach innen. Seine hochmögenden Pläne zur Erneuerung von Welt und Kirche hat er hintangestellt und lebt in Demut seinen spirituellen Alltag. Vielleicht steckt das ja andere an. „Gott ist die Liebe“, sagt er, „und ich kann mir nicht vorstellen, daß die Liebe die Erde verderben läßt.“

„Liebe“ ist ein peinliches Wort, vor allem, wenn es in politischen Zusammenhängen fällt. Und peinlich ist es, im aufgeklärten Europa über Religion zu schreiben. Aber im Kreuzgang des alten Benediktinergemäuers machte sich mit leichtem Schmerz bemerkbar, daß uns etwas abhanden gekommen ist; und andere Begegnungen mit Liebe als politischer Kategorie fielen mir ein. Pfingsten 1988 zum Beispiel. Da war in Hannover ein großer Kongreß, der hieß „Geist und Natur“, und in der Eingangsrede sprach Ministerpräsident Albrecht von Tschernobyl, Waldsterben und geistiger Wende. Dann der Aufmarsch der Großcharismatiker und Rettungsexperten: Carl Friedrich von Weizsäcker, Hans Jonas, Erwin Chargaff, Ted Turner, dazu ganzheitliche Max- Planck-Wissenschaftler, buddhistische Christen, glatte Gurus und geschäftstüchtige New-Age-Leute – eine ganze Hannover-Messe der Heilsangebote. Zuviel, um ernst zu sein. Berührt hat mich damals allein der charismatisch kaputte Antipsychiater Ronald D. Laing: „Wir können tausend Texte lesen, die avanciertesten Werke der Neurowissenschaften, Ontologie, Quantentheorie, (und finden) kein Wort über Liebe.“ Laing sprach von der Angst in einer Welt, in der man ohne Geld rückhaltlos ist, er zitierte Rilke, donnerte mit schottischem Akzent ein „Sumus ergo sum“ gegen fünfhundert Jahre descartesschen Individualismus, klaubte allerlei mystische Perlen aus der zweitausendjährigen Bildungsruine und bat, mit W. H. Auden, um eine ansteckende „Pest der Liebe“: „We must love one another or die.“ Da referierte niemand. Da legte einer Zeugnis ab, sagt man wohl auf theologisch.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Alltäglichwerden der ökologischen Apokalypse hat sich die öffentliche Sprache wieder versachlicht. Das Gefühl der Dringlichkeit und diese ganz untranszendente Weltfrömmigkeit, die von so verschiedenen Menschen wie John Lennon und Robert Jungk ausging und sogar Niedersachsen erreichte, hat sich wieder verloren. Heute redet keiner mehr von Liebe in politischen Zusammenhängen. Doch, kürzlich ist mir wieder einer aufgefallen: der Ökonom Leo Nefiodow, ein knallharter Theoretiker der langen Kondratieffschen Wellen. Was soll denn noch kommen, fragt er, nach den Innovationszyklen der Dampfmaschine, der Eisenbahn, der Chemie und Elektrotechnik, des Automobils, der Informationstechnik? Der „Sechste Kondratieff“ schreibt er, müsse die Welt der Neuzeit reparieren. Denn sie sei „das Ergebnis des Wagnisses des Menschen, das Erkenntnis ohne Liebe heißt“. Arbeitsplätze gebe es jetzt nur noch durch ökologische Investitionen und solche in die geistig-seelische Gesundheit. So weit, so grün.

Aber dann hebt Nefiodow ab: Nur die Liebe zu Gott könne diesen Sechsten Kondratieff begründen; im übrigen mache sie Menschen loyaler und belastbarer. Merkwürdige Doppelstrategie: ein Glaube, der sich utilitaristisch verkleidet, als Nothelfer der Marktwirtschaft und Kriminalitätsprävention; und eine schwächliche Wirtschaftsvernunft, die den transzendentalen Helfer braucht.

Es kann ja sein, daß ohne eine weltumfassende Gefühlsgemeinschaft vor allem der handelnden Eliten nichts vom Notwendigen geschehen wird, keine Rio-Praxis, keine Tobintax, kein Ausgleich zwischen Nord und Süd. Aber mit Sicherheit kommen wir nicht auf dem Weg des religiös komplettierten Funktionalismus da hin. Vielleicht ist das ja eines der wirklich schlimmen, klein machenden Resultate der Aufklärung, daß wir einzelnen gelernt haben, uns so klein zu machen, weil wir immer nur von der Gesellschaft her definiert werden: Wir brauchen Halbtagsarbeit, damit wir Vollbeschäftigung haben. Wir müssen ökologisch investieren, damit wir Wachstum kriegen. Wir müssen die Fähigkeit der Menschen entfalten, damit wir die letzten Produktivitätsreservern entfesseln. Aber vielleicht kann ja gerade das vernünftige und menschenfreundliche Verhalten überhaupt nichts mehr stabilisieren in dieser Ordnung. Vielleicht geht es um etwas anderes. Vielleicht geht es ja darum, daß jeder einzelne sein Unglück, sein Leben, seine Einsichten, sein „Heil“ etwas ernster nehmen lernt.

Die Mönche jedenfalls, die die Städte und die Latifundien des krisengeschüttelten und dekadenten Rom verließen, taten dies nicht, weil sie das System retten wollten. „Selbtgebackenes Brot, Gemüse aus dem eigenen Garten, frische Milch, all die Köstlichkeiten des Landes bieten uns bekömmliche Nahrung“, schwärmt Hieronymus, der Ur-Eremit, in einem Brief, „zwischen Zwitschern der Vögeln singen die Psalmen noch einmal so schön...“ Sie zogen aufs Land, diese Aussteiger, weil sie sich ernst nahmen und das gute Leben suchten. Eher „mit der linken Hand“, so heißt es in der kleinen Geschichte des Benediktinerordens, die uns der freundliche Mönch auf den Nachttisch gelegt hatte, tradierten sie so die Schätze der Antike und schufen sie die europäische Kultur. Sie wollten sich perfektionieren, nicht die Gesellschaft. Sie stiegen aus, irgendwann im vierten Jahrhundert, weil um sie herum alles häßlich, kalt und unzuverlässig war, weil Krisen und Kriminalität zunahmen. Sie gaben die Hoffnung auf diese Politik auf und fingen an, ihr Leben und ihre Wünsche ernst zu nehmen. Die Wirkung war erheblich.

Auf den Bergen über dem Kloster lag schon ein richtiger Schnee, im August, als wir abfuhren. Unten ist Wahlkampf, da hängen diese Schröder-Plakate. Ich vermute, es muß alles anders werden, damit vieles besser werden kann. Ich denke, der radikalste politische Text des Jahres war das „Manifest der glücklichen Arbeitslosen“. Und ich glaube, die Grünen hatten einen ihrer glücklichsten Momente, als Waltraud Schoppe in die höhnende und pöbelnde Bundestagsrunde hinein rief: „Ihr macht Politik, so wie ihr liebt.“