Kommunisten wittern Chance

Für die dritte Duma-Abstimmung über den Premier hat Jelzin noch keinen Kandidaten benannt. Opposition sieht darin ein Signal, daß der Präsident einlenkt  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Der arg bedrängte Boris Jelzin hält mit seinen Plänen hinterm Berg. Gewöhnlich reagiert Rußlands Präsident auf die Ablehnung seiner Kandidaten für das Amt des Premierministers durch die Duma postwendend und ernennt den abgewiesenen Bewerber noch am selben Tag für die nächste Runde. Zuletzt geschehen im April, als das Parlament Sergej Kirijenko zweimal die Zustimmung verweigerte. Beim dritten Anlauf kuschte die Opposition aus Kommunisten und Nationalisten. Hätte sie Kirijenko auch im dritten Wahlgang abgelehnt, wäre der Präsident gemäß Verfassung verpflichtet gewesen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.

Im Frühjahr fürchtete die Opposition die Konsequenzen, heute scheint sie bereit, bis zum äußersten zu pokern. „Auf der jetzigen Protestwelle erhalten wir in drei Monaten 60 Prozent, mehr als Beobachter schätzen. Wir kriegen drei Viertel der Duma. Das ist eine wirklich seltene Chance“, frohlockte ein Berater des Kommunistenführers Sjuganow. Die Hoffnung ist überzogen. Mehr als einige Prozentpunkte dürften die Kommunisten nicht zulegen. Ihre Siegesgewißheit zeigt jedoch, daß Legislative wie Exekutive den Bezug zur Realität eingebüßt haben.

Das verantwortungslose Geschacher um die Macht, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Landes, das täglich tiefer in die Krise schlittert, ist auch beherrschendes Thema der Kommentatoren. Boris Jelzin hat die Signale der Opposition empfangen. Die Verzögerung wird in Moskau als Beweis gewertet, der Präsident werde den designierten Premier Wiktor Tschernomyrdin fallenlassen und einen Alternativkandidaten ernennen. „Daß Jelzin der Duma noch kein Schreiben zugestellt hat, ist ein Zeichen dafür, daß das Staatsoberhaupt bereit ist, unsere Argumente wieder zu hören“, sagte der kommunistische Duma- Vorsitzende Gennadi Selesnjow.

Zuvor hatte der Fraktionschef der KPRF, Gennadi Sjuganow, angedeutet, Jelzin habe schon am Vortag seine Bereitschaft duchblicken lassen, „neue Kandidaturen zu diskutieren“. Aus der von den Kommunisten geleiteten Kommission zur Amtsenthebung des Präsidenten verlautete gestern, das Verfahren werde diese Woche nicht mehr auf der Duma-Tagesordnung stehen. Angeblich bedürften die Anklagepunkte noch einer weiteren Überarbeitung. Am Vortag hatte die Kommission indes noch angekündigt, die Anklageschrift sei bis Freitag fertig. Auch das deutet auf einen baldigen Kompromiß hin.

Die Opposition beschuldigt Jelzin, mit der Auflösung der UdSSR 1991 Landesverrat verübt und mit dem Tschetschenienkrieg 199451996 gegen die Verfassung verstoßen zu haben. Bevor das Amtsenthebungsverfahren nicht alle Instanzen durchlaufen hat, darf der Präsident das Parlament nicht auflösen.

Als Kompromißkandidaten wurden verschiedene Namen genannt. Moskaus Bürgermeister Luschkow könnte mit der Zustimmung der Kommunisten rechnen. Der selbstherrliche Autokrat ließ von seiner Pressestelle verbreiten, er stünde nicht zur Verfügung. Mit Sicherheit ist es nicht sein letztes Wort. Jelzins Entourage dürfte versuchen, dem Präsidenten Luschkow auszureden. Er zählt zu den Gegnern des Finanzmagnaten Boris Beresowski, der in Jelzins engstem Umkreis großen Einfluß hat. Auch Außenminister Jewgeni Primakow könnte die Aufgabe des Premiers angetragen werden. Er gilt bei allen Fraktionen als wählbar. Offiziell äußerte sich der Nahostexperte noch nicht, soll im privaten Kreis aber auf den Vorschlag „negativ“ reagiert haben.