"Es ist die Stadt der Lügner"

■ Unbemerkter Sterben in New York: "Sue" zeigt die moderne Urbanitin, wie sie im echten schlechten Leben so ist - finden Regisseur Amos Kollek und Darstellerin Anna Thomson

taz: Inwieweit korrespondiert die Story von „Sue“ mit Ihren eigenen Erfahrungen?

Anna Thomson: Diese Geschichte hat viel mit New York zu tun. Ich hatte da zum Beispiel diesen Freund. Eines Tages traf ich ihn in einem Buchladen. Er war sehr gut angezogen, sah gut aus und trug wie immer ein bißchen Make-up. Danach fuhr ich nach Kalifornien wegen eines Jobs. Als ich nach einer Woche zurückkam, sagte mir jemand, Ray wäre an Aids gestorben. Ich war fassungslos, ich meine, das kann doch nicht sein, ich habe ihn erst letzte Woche noch gesehen, und er sah wunderbar aus. Erzählte ich jedem. Aber das ist meiner Erfahrung nach eine sehr typische Geschichte. In dieser Stadt läuft enorm viel über die Fassade, und du weißt selten, was wirklich los ist.

Amos Kollek: Das macht natürlich auch den Reiz aus für Leute wie mich: diese krasse Anonymität, wo Leute dich in Ruhe lassen. Ganz anders als in Israel, wo ich herkomme. Dort fragen dich die Leute bei der kleinsten Veränderung fünfzigmal, was los ist. Wohingegen du in New York sterben kannst, ohne daß jemand etwas bemerkt.

Thomson: Die paarmal, wo ich mir wirklich Sorgen gemacht habe, weil jemand schlecht aussah, war es dann jemand anderes, der plötzlich starb, jemand, der blühend aussah. In New York bist du immer auf der falschen Fährte. Es ist die Stadt der Lügner.

Bei der Figur Sue fragt man sich, was und ob überhaupt etwas geschehen würde, wenn sie sich jemandem anvertraute. Sie erscheint als Person ohne Vergangenheit, beinahe völlig von ihrem eigenen ansprechenden Äußeren aufgesogen.

Kollek: Sue ist eine von ihrem Stolz bestimmte Person. Durch diese Abgeschlossenheit bleibt sie auf paradoxe Weise in sich intakt, bis zum Ende.

Das unspektakuläre Scheitern Ihrer „Heldin“ wurde ja kontrovers aufgenommen. Kam ein Happy-End für Sie, mit einer geläuterten, geretteten Protagonistin niemals in Frage?

Kollek: Offenbar für jeden, nur für uns nicht. Natürlich wurden uns kommerzielle Gesichtspunkte nahegelegt: Laß den Typ sie am Schluß in den Arm nehmen etc. Laß sie zusammen in den Sonnenuntergang schlendern und ähnlicher Mumpitz. Für uns gab es da nie einen Konflikt, wir waren lediglich entnervt und befremdet, wenn dieses Thema von den verschiedensten Seiten zum x-tenmal mit einem gewissen Druck vorgetragen wurde.

Thomson: Ich denke, das wäre absolut falsch gewesen. Es ist erstaunlich, wie sehr Leute, die ansonsten völlig rational denken und 80 Seiten lang das Skript sympathisch fanden, sagen: Dieser Stoff ist so bewegend und berührend, aber bitte mach das Ende total unglaubwürdig, dann geb ich dir auch das Geld dafür. Wenn sie sagen würden, ich mag das Skript als Ganzes nicht – okay! Aber sie loben es bis zu diesem Punkt über den grünen Klee. Das ist mir schleierhaft, denn in wirklich großen Stücken ist das Drama immer unausweichlich, weil die Saat dafür von Anfang an gelegt wird. Die Leute sind einfach so dermaßen an Happy-Ends gewöhnt; es ist wie eine Sucht. Leute gehen auch deshalb ins Kino, weil sie sehen wollen, daß alles gutgeht. Speziell das amerikanische Publikum reagiert geschockt, wenn es im Film genauso indifferent zugeht wie bisweilen im realen Leben.

Kollek: Auch wenn es einem kommmerziell nichts nützt – man sollte seiner Persönlichkeit treu bleiben. Mainstream-Storylines interessieren uns einfach nicht.

Thomson: Mein Agent warnt mich ständig, ich würde mir mein eigenes Grab schaufeln, weil ich mich bei meiner letzten Big-Budget-Produktion fast mit dem Produzenten geprügelt habe ... und ich bin sogar stolz darauf.

In Ihrem Film gibt es eine Szene, wo Sue versucht, ausgerechnet die Telefonvermittlung zu einem persönlichen Gespräch zu bewegen, obwohl sie vermutlich lieber mit ihrer Mutter spräche. Warum nutzen Sie diese Szene nicht, um den Zuschauer in ihren persönlichen Background einzuweihen?

Kollek: Ich denke, was man hier erfährt, ist doch nun wirklich persönlich: Es ist das persönlichste Gespräch, das Sue im ganzen Film überhaupt führt, und das eben mit einer wildfremden Person am Telefon.

Wie wichtig ist New York wirklich für die Geschichte von Sue?

Kollek: Was moderne, zeitgenössische Themen anbelangt, ist New York doch so etwas wie die urbane Vorhut. In dieser Form könnte der Film nirgendwo sonst spielen – auch wenn es in Großstädten wie Berlin vielleicht nicht viel anders aussieht. Nebenbei: Die Szene, wie eine junge Frau einem Mann im Park für eine Flasche Himbeerlimonade ihre Brüste zeigt, habe ich selbst beobachtet. Sie hat mich letzten Endes auch zu der Figur Sue inspiriert.

Ihr vorheriger Film kreist ebenfalls um das Thema Einsamkeit – ein Porträt von Frauen, die als Prostitutierte arbeiten. Haben Sie ein spezielles Interesse an weiblicher Isoliertheit im urbanen Umfeld?

Kollek: Es wäre mir schlicht zu offensichtlich und selbstreflexiv, einen Film über eine männliche Hauptperson zu machen. Der Regisseur und sein Alter ego – das ist doch ein alter Hut. Interview: Gudrun Holz