1998 bricht der weltweite Konsum alle Rekorde

■ Das Weltentwicklungsprogramm der UNO legt seinen alljährlichen Bericht vor. Fazit: Eine kleine Gruppe praßt, während die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung darben muß

Bonn (taz) – Was früher Luxus war, gilt heute als Notwendigkeit – vom Privatfahrzeug für jede Mittelschichtfamilie in Frankreich bis zur Armbanduhr für jeden Bauern in Indien. Aber auch die Nachfrage nach Gütern, die noch immer als Luxuswaren betrachtet werden, ist in den letzten Jahren explodiert. Bei Untersuchungen von US- Haushalten wurde festgestellt, daß 1994 ein doppelt so hohes Einkommen wie 1986 benötigt wurde, um alle Konsumwünsche zu erfüllen. Insgesamt wird die Welt 1998 die Rekordsumme von 24 Billionen US-Dollar in Gütern und Dienstleistungen verkonsumieren. Noch immer jedoch verbraucht eine kleine Minderheit den Löwenanteil davon: 86 Prozent des derzeitigen Weltkonsums entfällt auf nur 20 Prozent der Weltbevölkerung. Eine Milliarde Menschen kann sich dagegen nicht einmal das Nötigste zum Überleben kaufen.

Diese Zahlen gehen aus dem jüngsten Jahresbericht des UN- Entwicklungsprogramms (UNDP) hervor, der gestern zeitgleich in mehr als 100 Städten der Welt vorgestellt wurde. Seit 1990 gibt die UN-Organisation jedes Jahr den „Bericht über menschliche Entwicklung“ in Auftrag. Diesem liegt die Annahme zugrunde, daß Bruttosozialprodukt und Pro-Kopf- Einkommen als Indikatoren für gesellschaftlichen Reichtum und menschliche Entwicklung unzureichend sind. Das UNDP mißt den Fortschritt an Komponenten wie Lebenserwartung, Analphabetismus und Armutsanteil in der Bevölkerung, Chancengleichheit für Frauen sowie Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung.

Die Rangliste der Nationen verändert sich nach diesen Maßstäben gegenüber der traditionellen Methode erheblich. So liegt Kanada in diesem Jahr an der Spitze, obwohl es im internationalen Einkommensvergleich nur Rang zwölf erreicht. Brunei hat das höchste Pro- Kopf-Bruttoinlandsprodukt der Welt, landete aber im UNDP-Index für menschliche Entwicklung weit abgeschlagen auf Platz 35. Deutschland, beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf Rang 16, liegt nach der UNDP-Skala an 19. Stelle – ein Hinweis darauf, daß hier „Einkommen nicht so effizient wie andernorts in menschliche Entwicklung umgesetzt wird“.

Der diesjährige Bericht befaßt sich vor allem mit der Bedeutung von Konsum für Entwicklung und der ungleichen Verteilung zwischen armen und reichen Ländern. Die Autoren wollen ausdrücklich Konsum nicht verteufeln: „Reichhaltiger Konsum ist kein Verbrechen. Vielmehr ist er die Antriebskraft für menschlichen Fortschritt in vielen Bereichen.“ Es gehe also eigentlich nicht um den Konsum selbst, sondern um seine Muster und Auswirkungen.

In den meisten Entwicklungsländern sei der Konsum immer noch so niedrig, daß er gesteigert werden müsse, heißt es in dem Bericht. Die Autoren warnen zwar vor schädlichen Auswirkungen des hohen Verbrauchs bestimmter Güter in den reichen Ländern für die Umwelt, notieren jedoch auch positive Entwicklungen: „Die gute Nachricht ist, daß die Verwendung nichterneuerbarer Ressourcen nachläßt, neue Reserven entdeckt worden sind, der Konsum sich auf Produkte und Dienstleistungen verlagert hat, die weniger materialintensiv sind, daß die Energieausnutzung verbessert und Recycling populärer geworden ist.“

Ein enger Zusammenhang besteht zwischen Konsumverhalten und Globalisierung. Lokale und nationale Schranken für soziale Normen und Konsumwünsche gibt es nicht mehr. Die Marktforschung definiert „globale Eliten“ und „globale Mittelklassen“, die der gleiche Konsumstil und die Präferenz für dieselben Weltmarken verbindet. Es gebe, so der UNDP- Bericht, auch „globale Teens“, die ganz in einer einheitlichen Welt der Popkukltur leben, dieselben Videos und Musikstücke kennen und „einen riesigen Markt“ für Designer-Artikel bildeten. Statt wie früher dem Konsumverhalten der Nachbarn nachzueifern, „ist jetzt der Lebensstil der Reichen und Berühmten, der in Filmen und Fernsehserien vorgeführt wird, das Vorbild.“

Die Autoren befürchten, das Konsumverhalten werde aus dem Gleichgewicht geraten, wenn gesellschaftliche Anforderungen rascher ansteigen als das Einkommen: „Die Verwendung von Haushaltsgeld für Prestigegüter kann dann notwendige Dinge verdrängen.“ Die Werbung trägt das Ihre dazu bei. Sie expandiert auf der ganzen Welt schneller als die Bevölkerung und das Einkommen – heute werden weltweit jährlich mindestens 435 Milliarden Dollar dafür ausgegeben. Noch 1986 waren unter den 20 Ländern mit den höchsten Werbeausgaben nur drei Entwicklungsländer. Zehn Jahre später waren es schon neun. Bettina Gaus