Der Kreml schweigt immer noch

Bislang ist kein Kandidat für die Wahl des Premierministers benannt. Mögliche Anwärter, wie der Bürgermeister von Moskau, zögern. Gouverneur von Kaliningrad verhängt den Ausnahmezustand  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Auch am zweiten Tag, nachdem das russische Parlament die Kandidatur Wiktor Tschernomyrdins für den Posten des Premierministers abgelehnt hat, hüllten sich Präsident Boris Jelzin und das Präsidialamt ob alternativer Kandidaturen in Schweigen. Gewöhnlich stellt der Kremlchef der Legislative noch am selben Tag seinen Wunschkandidaten zu. Von den Alternativkandidaten, die die kommunistische Opposition favorisiert, haben die politischen Schwergewichte zunächst abgewunken.

Außenminister Jewgeni Primakow gab bereits vorgestern zu verstehen, er wolle lieber sein Amt als Außenminister behalten. Dennoch holte ihn der siechende Kremlzar gestern zu sich auf die Datscha im Moskauer Vorort Gorki 9. Der ehemalige Geheimdienstchef und Nahostexperte gilt als aussichtsreichster Bewerber, auf den sich alle Fraktionen einigen könnten. Grigori Jawlinski, Vorsitzender der liberalen Partei Jabloko und Reformer in Opposition, hatte als erster Primakow vorgeschlagen.

Ohne Ambitionen auf die Präsidentschaft 2000 könne er sich auf die Politik konzentrieren und wäre nicht in die moskauüblichen Händel um die Machtfrage verstrickt. Gleichzeitig würde er eher eine Garantie bieten, daß die Sicherheitskräfte der politischen Führung die Gefolgschaft nicht aufkündigen. Kommunisten und Nationalisten schätzen den 68jährigen, weil er außenpolitisch Akzente zu setzen versuchte, die Rußlands Großmachtrolle wiederbeleben sollten. Das ehemalige ZK- Mitglied der KPdSU ist kein Gegner, aber auch kein Freund des Westens. Ob er sich am Ende umstimmen läßt?

Ebenfalls unklar bleibt, ob Moskaus Bürgermeister Luschkow bereit wäre, die Herausforderung anzunehmen. Widersprüchliches verlautet dazu aus der Bürgermeisterei. Eigentlich möchte er wohl, doch die geringen Aussichten, das Land in kurzer Zeit wiederaufzurichten, schrecken den autoritären Stadtvater ab. Mißlingt ihm das, müßte er sich von seinen Aspirationen auf das Präsidentenamt verabschieden.

Auch General a.D. Alexander Lebed, zur Zeit Gouverneur im sibirischen Krasnojarsk, drängt nicht auf den Posten des Ministerpräsidenten. Jedoch schloß er die Möglichkeit nicht grundsätzlich aus. Unterdessen schlittert Rußland immer weiter in die Desintegration. Im Gebiet Kaliningrad (Königsberg) verhängte der Gouverneur bereits den Ausnahmezustand. Auf Grund des neuen Zollreglements, das die Einfuhr von Importen unterbindet, stiegen die Preise für Lebensmittel, Medikamente und Energieträger in der vom Mutterland abgetrennten Exklave ins Astronomische. Ähnliche Maßnahmen ergriff der Gouverneur des Leningrader Gebietes. Eigentlich fallen derartige massive Eingriffe in die Kompetenzen des Präsidenten. Die Absetzbewegung der Regionen vom paralysierten Moskauer Zentrum nimmt alarmierende Formen an.