Widerstreitende Gefühle

Mimik und Gefühlsausdrücke sind universell. Alle Menschen lächeln, wenn sie glücklich sind, und sie verziehen die Mundwinkel, wenn sie traurig sind. Eine fast verschollene Schrift des Begründers der Evolutionstheorie, Charles Darwin, läßt den alten Streit wieder aufflammen, ob Gefühlsausdrücke erlernt oder angeboren sind  ■ Von Peter Tautfest

Die Vielfalt des Lebens auf der Erde ist das Ergebnis des unbeaufsichtigten, unpersönlichen, unvorhersehbaren und natürlichen Prozesses der Evolution.“ So stand es bis vor kurzem im Grundsatzpapier der National Association of Biology Teachers, der Vereinigung US-amerikanischer Biologielehrer. In einer jüngst verabschiedeten Neuformulierung wurden daraus zwei Wörter gestrichen: unbeaufsichtigt und unpersönlich. Ein Sieg der sogenannten Kreationisten, die bis heute der Evolutionslehre die biblische Schöpfungsgeschichte entgegenhalten. Jüngst gaben von tausend in den USA befragten Naturwissenschaftlern 55 Prozent an, sie glaubten, Gott habe keinen Anteil an der Evolution. Immerhin 44 Prozent aber waren noch der Meinung, Gott habe den Prozeß der Evolution und vor allem die Entwicklung des Menschen gesteuert.

Etliche Schulbezirke bestehen heute wieder darauf, Evolution nur als eine Theorie zu kennzeichnen, und Schulbuchverlage, die um ihre Märkte in bevölkerungsreichen Staaten wie Texas und Florida bangen, modifizieren ihre Schulbücher nicht anders als der Verband der Biologielehrer seine programmatische Erklärung. Evolution ist so aktuell und so umstritten wie eh und je, und da sorgt die Neuausgabe einer fast verschollenen Schrift Charles Darwins (1809 bis 1882) für Zunder: „Der Ausdruck von Gefühlen bei Mensch und Tier“, herausgegeben mit einer Einleitung, einem Nachwort und einem Kommentar des kalifornischen Psychologen Paul Ekman.

Warum beißen Menschen sich zärtlich? Warum schnurren Katzen und bellen Hunde? Warum legen Hund und Katze, Pferd und Zebra die Ohren an? Warum schließen Säuglinge beim Schreien die Augen und reißen Menschen beim Erschrecken Mund und Augen auf? Erröten Menschen eigentlich auch im Dunkeln, und schnurren Katzen auch, wenn sie niemand hört? Und warum war Darwins Bestseller fast hundert Jahre lang so gut wie vergessen? Die Beantwortung dieser Fragen ist geeignet, erneut Gräben und alte Wunden aufzureißen.

Gefühle sind ein schwankender Boden, auf dem Wissenschaft nicht gut steht, und so flüchtig wie der Gegenstand, so leidenschaftlich ist die Auseinandersetzung darum. Was sind überhaupt Gefühle? Haben alle Menschen Gefühle? Haben alle die gleichen Gefühle? Finden sie alle den gleichen Ausdruck, oder ist es denkbar, daß in einer entfernten Weltgegend Menschen das Lächeln als Zeichen des Angriffs mißverstehen? Und als wären diese Fragen nicht schwierig genug, greift Darwin auch noch die weitergehende auf: Haben nur Menschen Gefühle? Verleihen nicht auch Tiere ihren Gefühlen Ausdruck – und zwar auf die gleiche oder doch ähnliche Weise wie Menschen?

Beide Fragen, die nach der Universalität von Gefühlen und die nach dem Kontinuum des Gefühlsausdrucks im Reich der Schöpfung, enthalten Sprengstoff. Die gegensätzlichen Standpunkte werden von Universalisten und Relativisten besetzt.

Die Beschäftigung mit Gefühlen und mit deren physiologischem Ausdruck war in Darwins Evolutionslehre angelegt, die zwischen Tierreich und Menschengeschlecht keinen Bruch, sondern Übergänge sieht. Anlaß zu seiner Beschäftigung mit der Physiognomie der Gefühle aber gab ihm die Beobachtung seiner Kinder und ihrer Gefühlsausbrüche – ihr Weinen, Schreien, Lächeln und Schmollen. Ihn beschäftigte die Frage, ob Gefühlsausdrücke erlernt oder angeboren sind.

Zu Rate zog er Fragebögen, die er Reisenden in die entfernten Regionen des British Empire mitgab. Selbst das nach heutigen Maßstäben dürftige empirische Material, das Darwin 1872 zusammentrug, legte nahe, was in diesem Jahrhundert der Verhaltensforscher Eibl-Eiblsfeldt und Paul Ekman bestätigen: Alle Menschen lächeln, wenn sie glücklich, und lassen die Mundwinkel fallen, wenn sie traurig sind. Der Ausdruck von Ärger ist universell so unmißverständlich wie der von Ekel.

Was heute fast wie eine Selbstverständlichkeit anmutet, mußte sich in diesem Jahrhundert allerdings gegen heftigsten Widerstand durchsetzen. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nämlich beherrschte die strikte Ablehnung des Universalismus das Denken der Anthropologen, Ethnologen und Soziologen – das gehört zum geistigen Erbe der Linken und ist ein Reflex auf Rassismus und Reaktion. Gefühle und deren Ausdrucksformen galten als Artefakt und als Produkt von Sozialisation. 1935 gab Margaret Mead vor, nachweisen zu können, daß Sexualverhalten je nach Kultur variiere. Ganze Generationen von Sozialwissenschaftlern sind auf ihre Fälschung hereingefallen.

Daß irgend etwas dem Menschen angeboren, daß psychische oder ethische Kategorien, daß soziale Verhaltensweisen von der Natur vorgegeben sein könnten, galt all jenen als obskur, die von der grenzenlosen Formbarkeit der Menschen durch gesellschaftliche Umstände ausgingen. Ob böse oder gut, angriffslustig oder friedfertig – der Mensch wird nicht so geboren, sondern so gemacht. Dieser Grundsatz schien allemal auf die Gefühlswelt des Menschen und deren Ausdrucksformen zuzutreffen. Etwas anderes zu behaupten galt als Rassismus, der einzelnen Menschengruppen unauslöschliche Züge zuschrieb und sie dadurch als höher oder minderwertig klassifizierte.

Kein Wunder, daß Margaret Mead, deren Untersuchung über die Sexualität eingeborener Stämme 1935 erschien, Darwins Lehre vom Ausdruck der Gefühle völlig ablehnte. Doch Darwin wollte gerade das nachweisen: Es gibt keine Unterschiede unter den Menschen. Er bemühte sich darum, die Universalität des Menschengeschlechts zu etablieren. Er, der die Herkunft des Menschen aus dem Tierreich nachgewiesen hatte, bewies nun, daß alle Menschen vom gleichen Ahnvater abstammen. Darwin war der erste, der in seiner Schrift über den Gefühlsausdruck die Existenz der Rassen kategorisch ablehnte.

Darwin legte sich nicht nur mit den Rassisten an, die von der Überlegenheit der englischen Rasse und ihrem Auftrag, die Welt zu beherrschen, ausgingen, sondern auch mit jenen, die Gefühle und deren Ausdruck als etwas ansahen, das Gott nur den Menschen gegeben hatte. Er zeigte, daß auch andere Geschöpfe Gefühle wie Furcht, Zorn und Freude ausdrücken – und zwar durch Körpersprache und Gesichtsmuskulatur. Gesichtsmuskeln haben alle Säuger, wenn sie beim Menschen auch am weitesten differenziert sind.

Drei Fragen warf er dabei auf: Was für Gefühle werden ausgedrückt, wie werden sie ausgedrückt, und warum werden sie so ausgedrückt? Die Frage nach dem Warum ist natürlich die spannendste, weil sie Gefühlsausdruck nach dessen Nützlichkeit für das Überleben der Art befragt. Warum zeigt ein Hund die Zähne, wenn er angriffsbereit ist? Na klar, weil er sie gleich gebrauchen wird. Warum legt eine Katze die Ohren an, wenn sie in Kampfstellung geht? Alle Tiere, die mit den Zähnen kämpfen, legen die Ohren an, damit sie ihnen nicht abgebissen werden – ziemlich einleuchtend. Gefühlsausdrücke sind also unmittelbar dienstbar.

Und warum buckelt ein Hund, wenn sein Herrchen kommt? Darwin führt zur Erklärung vieler Gefühlsausdrücke das geniale Prinzip der Umkehrung ein: Eine schmusende Katze verkehrt alle Elemente der kampfbereiten Körperhaltung – sie signalisiert, daß sie nicht kämpfen will. Als dritte Kategorie führte Darwin das unmittelbare und unwillkürliche Einwirken der Gefühle auf Muskeln ein – ein Vorgang, der vor allem Blutgefäße und Muskeln im Gesicht betrifft. Daß Darwin hier einen kausalen Zusammenhang zwischen Ausdruck und Nützlichkeit schuldig bleibt, gibt er selber zu. Warum das Gesicht der Spiegel der Seele ist, weiß man bis heute nicht.

Einige Biologen suchen die Antwort im stammesgeschichtlichen Ursprung der Gesichtsmuskeln – in jenen Muskeln, die ehemals Kiemen und damit die Sauerstoffzufuhr regulierten. Lächeln und Stirnrunzeln also wurzeln möglicherweise sehr tief in den Ursprüngen der Schöpfung.

Und warum entging eine derart interessante und unterhaltsame Schrift so lange der Aufmerksamkeit der Fachwelt und dem breiteren Publikum? Außer der Vorherrschaft des Relativismus, der jede Programmierung des menschlichen Verhaltens als Rassismus ablehnte, nennt der Herausgeber Paul Ekman vier weitere Gründe: Darwin stützte seine Schlußfolgerung auf sehr interessante, dabei aber unsystematisch zusammengetragene Beobachtungen. Er verfolgte nur ansatzweise einen Gedankengang, der zu einer Obsession des 20. Jahrhunderts wurde: Kommunikation. Den kommunikativen Wert von Gefühlsausdrücken erkannte er, wies ihm aber eine untergeordnete Bedeutung zu.

In seiner Schrift über Gefühlsausdrücke geht Darwin noch von der Vererbung erworbener Eigenschaften und angenommener Gewohnheiten aus, was Biologen heute strikt ablehnen. Und schließlich spielte die Kritik des sogenannten Anthropomorphismus eine Rolle, das Wiedererkennen menschlicher Verhaltensmuster im Tierreich und die Heranziehung von ersterem zur Erklärung von letzterem. Kritik am Anthropomorphismus aber geht da fehl, wo sie menschliche Entsprechungen im Tierreich und umgekehrt grundsätzlich leugnet. Wenn Gott wirklich die Evolution gelenkt haben sollte, dann jedenfalls nicht zu dem Zweck, die Menschheit gegenüber dem Tierreich auszuzeichnen. Letztlich lehrt Darwin, daß nicht nur alle Menschen, sondern alle Geschöpfe Brüder sind. Eine Lehre, die eigentlich geeignet sein müßte, alle verfeindeten Lager zu versöhnen.