Eine Reportage im Jahre 2020: Bremen – heimliche Hauptstadt Nordwestdeutschlands

Neues Leben und „Arbeiten“ haben die Stadt revolutioniert, das Siedlungsbild hat sich verändert, Straßen wurden aufgerissen, eine „Europahafen-City“ gebaut – eine vollkommene Utopie  ■ Von Eberhard Kulenkampff

Eine hohe Glashalle empfängt uns, als wir aus dem Fernschnellzug steigen, im neuen Fernbahnhof über der Kreuzung der Strecke nach Hannover mit der Linie Hamburg – Dortmund, die nun schon seit Jahren über die frühere „Sagehorner Bahn“ in direkter Linie führt, anstatt die lange S-Kurve durch Bremen zu benutzen, die auf der ganzen Länge durch Wohngebiete führt. Deshalb ist in Mahndorf der Fernbahnhof entstanden, von dem man mit der S-Bahn in alle Stadtteile kommt.

Drei S-Bahnstrecken wurden eingerichtet: Nienburg – Blumen-thal, Rotenburg – Oldenburg und Diepholz – Bremerhaven. 53 Haltepunkte werden im 10-Minuten-Takt angefahren, die Region ist zusammengewachsen.

Vom S-Bahnhof Walle bringt uns der Elektro-Bus mit Spurführung – eine Technik, die Mercedes schon im letzten Jahrhundert für Canberra entwickelt hatte und die in Bremen inzwischen die individuell geführten Dieselbusse abgelöst hat – zu unserem Appartement im früheren Europahafen.

Nachdem im Jahre 1999 anläßlich der Regierungsneubildung die Ressorts für Wirtschaft und für Häfen zu dem neuen Ressort „Wirtschaft und Verkehr“ zusammengelegt wurden, ist die Faulenstraße zur direkten Verbindung in die früheren Hafengebiete unter Schnellstraße und Bahn hindurch geführt worden und erschließt nun das Europahafengebiet mit seinen vier Kilometern Hafenfront als breite Lindenallee. Der Europahafen ist längst zur „ersten Adresse“ in Norddeutschland geworden, obwohl – oder gerade weil – hier in direkter Nachbarschaft die alten Betriebe und die neuen Nutzungen sich gegenseitig ergänzen. Ja, es hat sich gewaltig viel verändert in dieser Welt, zu der auch Bremen gehört.

Seit dem Bau der neuen Weserbrücke, die auch den Gemüsegroßmarkt direkt zwischen dem westlichen Ende Rablinghausens und den Neustädter Häfen hindurch mit dem Güterverkehrszentrum und der Autobahn-Eckverbindung verbindet – seitdem diese neue Brücke mit ihren gewaltigen Pylonen wie die großartige Brücke in Rotterdam zum Wahrzeichen des neuen Aufbruchs geworden ist, ist auch das G.V.Z. schnell weiter auf inzwischen 300 Hektar angewachsen. Die Neustädter Häfen sind zum europäischen Schwerpunkt der Küstenschiffahrt geworden, die sich zu einem Hauptträger des Güterverkehrs entwickelt hat; dazu hatte auch die Einführung des Katamaran-Typs in den Gütertransport wesentlich beigetragen.

Parallel dazu gibt es das neue bunte Stadtkerngebiet an den alten Hafenbecken. Nachdem man die längst antiquierte Trennung von Wohnen und Arbeiten (ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert mit seinen Dampfhämmern und Giftküchen) endlich aufgegeben hatte, hatte sich schnell ein neuer Stadt- und Gebäudetyp entwickelt: Inzwischen lebten nämlich etwa 80 Prozent der Menschen in Ein- und Zweipersonenhaushalten, die zumeist ihren urbanen Lebensstil ländlichem Wiesenduft vorzogen. Da auch die Arbeitsplätze nicht mehr nüchterne Bürosilos mit hie-rarchischen Betriebsstrukturen, sondern kontaktfreundliche Aufenthaltsbereiche mit hoher Lebensqualität sind, hatte sich dieser neue urbane Bautyp herausgebildet, in dem sich Arbeits- und Wohnlandschaften mit vielfältigen Serviceeinrichtungen verschmelzen und von Freizeitangeboten durchdrungen werden.

Durch diese „Neue Welt“ bummelten wir, mal links von dem lustigen Treiben auf den Wassern des alten Hafenbeckens fasziniert, mal rechts von den schicken Yachten beeindruckt, die am Weserufer festgemacht hatten, zur Altstadt mit den „uralten“ Kneipen an der Schlachte, die es schon im 20. Jahrhundert gegeben haben soll.

Ein alter Kellner, Pietro im „Osteria“ – dem ersten Lokal damals an der neuen Schlachte – erzählte uns, wie die Verlegung der Straßenbahn mit ihren neuen Haltestellen in der Martinistraße den Umbruch für dieses Viertel am Fluß gebracht hätte. Sogar der Teerhof und die vordere Neustadt hatten sich dadurch beleben lassen. Am stärksten beeindruckt hat uns allerdings die Obernstraße: Befreit von der Straßenbahntrasse war sie neu gestaltet worden und bildet nun den zentralen Boulevard. Straßencafés säumen die zentrale Flanierzone dieser historisch wohl ältesten Straße Bremens, und das gefällt den Menschen gut. Die Kaufhäuser haben die ihnen aufgezwungene Strukturveränderung glänzend bewältigt: Fachverkäufer höchster Qualifikation auf allen erdenklichen Spezialgebieten wetteifern um das Interesse der Kunden. Hier gibt es alles, was in Nordwestdeutschland nur einmal angeboten wird, weil alle wissen: Hier bekommst Du „ES“ – und das notwendige Wissen dazu.

Da der Kunde nichts so sehr schätzt wie Vertrauen, das er in den Verkäufer setzen kann, optimal beraten zu werden, und da ohne solche Beratung die moderne technische Welt sich nicht erschließt, genausowenig wie die Werke der Hochkultur in Spätzeiten alter Kulturen, wie wir sie heute durchleben, treffen sich hier alle, die etwas Besonderes suchen – und finden, was sie brauchen. Und sie finden noch mehr; denn hier trifft man die interessantesten Typen, die hellsten Köpfe. Mit diesem Konzept ist die Bremer Altstadt zum eigentlichen Herzen zwischen Oste und Ems, Wiehengebirge und Nordseeinseln geworden – allen Einkaufszentren zum Trotz!

Nur eines ist geblieben, wie auf den alten Stichen und frühen Fotografien: Der Markt mit Rathaus und Schütting, dem Roland und dem Dom, Liebfrauen und dem Haus der Bürgerschaft – aber nun ohne Straßenbahn zwischen Roland und Rathaus.

Für den Abend hatte man uns einen Bummel über den „Freimarkt“ empfohlen. Ein Boot trug uns über die Weser zur alten „Kommode“ – doch wie sah es hier jetzt aus: Das gut 100 Hektar große alte Wasserwerksgelände ist in einen der schönsten Jahrmarktsplätze Europas umgestaltet worden. Zwischen Weser und „kleiner Weser“ hat man sowohl während der Osterwiese und dem herbstlichen Freimarkt im Großen als auch dazwischen im Kleinen mit Wanderzirkus-Veranstaltungen, Rollerskate-Meisterschaften und vielen anderen Wettbewerben und Freizeit-Vergnügungen die Möglichkeit, sich vom Alltag zu befreien. Damit gehört auch das ewige Hick-Hack zwischen Schausteller- und Messeinteressenten ebenso wie die Klagen über Störungen in Findorff und dem Parkviertel der Vergangenheit an.

In den nächsten Tagen wanderten wir kreuz und quer durch die erweiterte Stadtregion.

Der lange Abschied von der „Arbeitswelt“, der sich noch im 20ten Jahrhundert so prägend auf alle Lebensbereiche ausgewirkt hatte, hatte humane und kreative Kräfte freigesetzt, die alles verändert hatten.

Da inzwischen nach den (überholten) Begriffen des 20. Jahrhunderts ständig etwa 65 Prozent „arbeitslos“ sind – das heißt, nicht mehr regelmäßig gegen Entgelt Arbeitsplätze aufsuchen – (und daran auch der vierjährige Wechsel zwischen CDU und SPD geführten Bundesregierungen, der Euro und der Kombilohn nichts geändert haben!), hat sich ein „grauer Markt“ – wie das früher geheißen hätte – entwickelt, der den größten Teil der Schaffenskraft dieser „60 Prozent“ aufgefangen hat.

Das hat auch das Siedlungsbild völlig verändert. In den Erdgeschoßwohnungen wird kaum noch gewohnt. Wohnungen, die frei werden, weil die jungen Familien für einige Zeit (bis die Kinder 15 sind) ins Grüne ziehen und die lebenslustigen Ledigen in die Servicehäuser des erweiterten Stadtkerns mit ihrem urbanen Flair, diese Wohnungen sind jetzt kleine Werkstätten, Büros, Restaurants, Kaffee- und Spielstuben, Ateliers, Bücherstuben und Nachbarschaftshilfen. Hier herrscht weitgehend Tauschhandel, sogar mit Internetanschluß. Niemand hat viel Geld, aber jeder kann irgend etwas besser als die Nachbarn und bietet es an.

So gibt es keine „Schlafstädte“ mehr, denn die Menschen sind längst dazu übergegangen, ihr ganzes Leben daheim zu verbringen, in der Neuen Vahr, in Blockdiek und Tenever, in Kattenturm, Huchting, dem Marßeler Feld und Gröpelingen.

Generationsübergreifend leben sie hier. Da einerseits die Krabbelstuben, die Schulen und die Altenzentren nicht mehr isoliert betrieben werden, sondern in die Erdgeschoßzonen der Siedlungen sich diffundiert haben, andererseits aber auch die „Arbeitenden“ sich nicht mehr morgens mit der Stulle in der Aktentasche für den Tag verabschieden, sind Straßen und Wege ständig belebt.

Und noch etwas anderes können sich die Menschen nicht mehr vorstellen: Noch über die Wende 2001 hinweg standen und fuhren überall Autos herum. Jeder hatte so ein Ding, viele hatten zwei. Die meisten gaben monatlich mehr für das Auto aus als für ihre Wohnung. Es wurde identifiziert mit Tüchtigkeit, Erfolg, Reichtum, Freiheit. Diese Wertordnung schien unerschütterlich gesichert. Projekte „Wohnen ohne eigenes Auto“ scheiterten, verlacht von den Besserwissenden. Aber – zunächst noch unbemerkt von den „Fünf Weisen“ – kauften mehr und mehr Leute kein neues mehr, ließen das alte stehen, änderten ihre Fortbewegungsart, änderten ihr Leben.

Natürlich trug mit dazu bei, daß das Geld immer knapper und der Treibstoff immer teurer wurde – aber entscheidend war, daß die Menschen wieder mehr Freude aneinander, am Nachbarn, am gemeinsamen Arbeiten, an vielfältigen kreativen Aktivitäten, am Leben zu Hause gewonnen hatten und der ÖPNV so hervorragend funktioniert.

Viele Straßen sind inzwischen, wie weiland die Befestigungsanlagen, als man sie nicht mehr brauchte, aufgerissen und in Grünanlagen verwandelt – die schon längst nicht mehr vom Grünflächenamt, sondern von ehrgeizig um den „schönsten Garten“ oder die schönste Anlage bemühten Anliegerkooperativen gepflegt werden. So gibt es übrigens auch die tristen Rasenflächen zwischen den Wohnblocks nicht mehr, denn jedes Eckchen trägt Frucht und Blüten. Nicht der Gemüsegroßmarkt oder Aldi, nicht Bio- oder Bauernmarkt ist angesagt, sondern „Selbstversorgung“ mit Blumen, Gemüse und Obst. Die Überschüsse werden getauscht – oder der alten netten Frau, die den Kindern so gut vorlesen kann, geschenkt.

Kein Wunder, daß die freigesetzte Kreativität auch ein neues Verhältnis zur „Hochkultur“ zur Folge hatte. Wer, wie die meisten, selbst musiziert, malt, zeichnet, druckt oder schreibt, erweckt in sich einen leidenschaftlichen Hang zum Höheren, zum Besseren. Museen und Ausstellungen, Theater und Konzerte sind ständig ausverkauft (wie in der DDR vor der Wende), überfüllt und belagert. Eine breite und sehr lebendige Berichterstattung in allen Medien trägt dem Interesse der Menschen Rechnung, es wird gelesen, diskutiert, kritisiert.

Aber auch die Politik profitiert von dieser Entwicklung. Das politische Geschehen findet breites Interesse und die Mitarbeit vieler. Längst vorbei sind die Zeiten, als der „öffentliche Dienst“ die Parlamente dominierte. Zwar hat man die alten Institutionen noch der Form nach erhalten, wie z. B. die Gliederung in Bundesländer der sogenannten „Bundesrepublik Deutschland“: Obwohl die selbständige Mitgliedschaft der früheren Bundesländer in der europäischen Föderation doch viel vernünftiger wäre – so bilden doch die Südstaaten in den USA auch keinen Staat im Staate –, gibt es die alten Stadtstaaten noch. Aber die Menschen beiderseits der institutionellen Grenzen haben sich zu Gemeinschaften und Verbänden in allen für ihren Lebensraum wichtigen Fragen zusammengeschlossen und die Dinge, bei denen die Politik früher versagt hatte, gemeinsam in die eigenen Hände genommen. So wie schon vor Jahrhunderten „Kammern“ und „Gilden“ Lebensverhältnisse geordnet haben und z. B. Deich- und Wasserbau in „Deich-, Wasser- und Bodenverbänden“ organisiert und Konsum und Wohnen in Genossenschaften gesichert wurden, ist der omnipotente „Vater Staat“ durch viele Netze gegenseitiger Hilfe und gemeinsamer Problemlösung ersetzt worden.

Ja, während sich die Stadt in ihrer baulichen Erscheinung gegenüber den Bildern in den zahlreichen Festschriften zur Jahrtausendwende erstaunlich wenig verändert hat – abgesehen von den neuen Stadtkerngebieten in den früheren Hafengebieten und auf dem alten Güterbahnhofsgelände – , hat die Gesellschaft doch offenbar einen starken Wandel durchgemacht.

Die neuesten Forschungen gehen davon aus, daß erst die Abkoppelung der Lebenshaltungsfinanzierung von der persönlichen Beteiligung am Produktionsprozeß zur Entkrampfung der Diskussion geführt und den Weg zu neuen konstruktiven Lösungen frei gemacht hat. Als nämlich bei ständig steigender Produktivität die meisten an dem Ertrag nur noch durch Alimente und Almosen beteiligt waren, faßten sich die ganz wenigen, die bis dahin die Gewinner waren, ein Herz und änderten kurzerhand das Verteilungssystem so, daß alle Gewinne aus Vermögen- und Maschinenarbeit in die Gemeinwesenarbeit flossen und nur noch die Erträge aus persönlicher Arbeit zur persönlichen Verwendung verblieben.

Wenn wir auf unseren Erkundungsgängen durch die Stadt so viele Zeugnisse sparsamsten Wirtschaftens gesehen hatten, so liegt das, wie wir nun erfuhren, nicht an der Ertragsverteilung im Inland hier in Europa, sondern daran, daß die vielgestaltige Ausbeutung der früher so genannten „Dritten Welt“ inzwischen einem partnerschaftlichen Umgang gewichen war, und dabei war nun für die Europäer (und Amerikaner und Japaner) bei weitem nicht mehr so viel herauszuholen wie zu Zeiten des wirtschaftlichen Spätkolonialismus im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Als wir nach einer Woche aufregender Recherche wieder nach Mahndorf fuhren, um mit einem Fernschnellzug nach Hause zu reisen, schenkte uns das freundliche Mädchen am Büffett noch schnell ein bekanntes Bremer Bier ein und sagte „Jedenfalls hat sich daran nichts geändert!“.

Berlin, im europäischen Bundesstaat Brandenburg, den 31. August 2020