Identitäten im trotzigen Instant-Rausch

■ Welttanznacht beim 15. Sommertheater: Eine Kritik und ein Festivalrückblick

Kurz vor Ende hatte das Festival noch eine kleine und gemeine Backstage-Katastrophe ereilt, doch bis zum großen Finale am Samstag abend waren glücklicherweise alle Abwasserleitungen wieder geflickt. Festivalleiter Dieter Jaenicke bedankte sich öffentlich bei den rettenden Rohringenieuren und nutzte die Gelegenheit, auch den hauseigenen Technikern sowie dem Rest der Festivalcrew verbal die Hände zu schütteln. Daß die in den vergangenen 25 Tagen hart schuften mußten, steht außer Frage, und daß sie was können, stellte auch die als dreistündig angekündigte, am Abend auf vier Stunden geschätzte und am Ende mehr als fünf Stunden dauernde Welttanznacht unter Beweis. 17 verschiedene Ensemble- und Soloperformances folgten einander Schlag auf Schlag auf der Bühne der Halle k6, jede einzelne kunstvoll ausgeleuchtet.

Die brasilianische Cia. Paula Nestorov begann den Abend mit einem modernen Marsch in einen monochromen orangenen Sonnenaufgang und stellte auch sonst in erster Linie verschiedene Gangarten von Schreiten bis Tänzeln vor. Konterkariert wurde der Auftritt durch das folgende streng formale Idyll 3 der Hamburger Labor GR AS 888, die sich mit der Präzision eines schwingenden Zirkels auf Videoprojektionen am Boden bewegten. Große Klasse und überaus unterhaltend waren die 15 Minuten des zweiten Hamburger Duos, das mit Duet ein „work in progress“ zeigte, dessen folgende Entwicklungsstufen hoffentlich auch in Hamburg zu sehen sein werden. Unter dem groß plakatierten Motto „We won't move“ breiteten die Portugiesin Angela Guerreiro und die Brasilianerin Cristina Moura ihre obskure Habe vor dem Publikum aus und wechselten Perücken wie Identitäten im trotzigen Instant-Rausch.

Überraschende Similaritäten gab es bei den männlichen Tänzern/Choreographen, die Soloarbeiten vorstellten: Tim Feldmann (DK), Jonathan Burrows (GB) und Bill Eldridge/Palle Granhöj benahmen sich eher wie die Grönemeyers des Tanzes, die ihre Extremitäten in Form zwingen mußten und, den Tanz hinter sich lassend, bereits zu Bewegungs-Entertainern geworden sind. Mit der spannenden europäischen Erstaufführung Hamsin der israelischen Vertigo Dance Company, die eine ebenso sexy wie verlorene Jeunesse dorée zeigte, und einer Art exklusive Stomp-Version von Sheketak endete der erste Teil des Abends, der gelungen war, und, so es möglich sein sollte, ein derart aufwendiges Projekt noch einmal zu finanzieren, gerne Festival-Tradition werden sollte. Der zweite Teil des Abends fiel hingegen drastisch ab. Russische Flötenspieler im Bärenfell und indische Bharatanatyamtänze fügten sich letzlich nicht zu mehr als einem Folklorereigen.

Zu den 54 Veranstaltungen des Festivals kamen nach Veranstalterangaben 20.000 Zuschauer. Die meisten von ihnen dürften zufrieden gewesen sein: Im Vergleich zum letzten Jahr war die künstlerische Qualität entschieden höher, und durch die Einladung größtenteils renommierter Künstler wurde das Risiko klein gehalten. Höhepunkte gab es, Entdeckungen nicht. Wie geplant, ist das Festival nicht nur durch die Ausweitung der Spielorte groß, sondern erwachsen geworden. Leider ein bißchen zu gesetzt. Christiane Kühl