Im Dom teilt sich das Meer

■ William Christie dirigierte das Oratorium „Israel in Ägypten“ und macht es hörbar als Händels Reform der eigenen Oper

Die englischen Massenaufführungen von Georg Friedrich Händels Oratorien, die auch die europäische Rezeption bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein prägten, veranlaßten den Spötter George Bernhard Shaw zu dem Wunsch, Mitglied des britischen Unterhauses zu sein: „Ich würde“, so sagte er, „ein Gesetz einbringen, das es als Kapitalverbrechen bestraft, Händels Oratorien mit mehr als achtzig Mitgliedern im Chor und Orchester aufzuführen.“ Insgesamt haben vier Konstanten dazu beigetragen, dem deutsch-englischen Komponisten (er lebte von 1711 bis zu seinem Tod 1759, also über die Hälfte seines Lebens in London) zu einer überwältigenden Renaissance zu verhelfen, die allerdings angesichts der Größe und Menge seines Werkes noch lange nicht abgeschlossen scheint.

Das war einmal die Händelforschung in der ehemaligen DDR, wo früh erkannt wurde, daß man Händels große Völkerchroniken mit den Themen des Alten Testamentes gut für eine sozialistische Auffassung von Ästhetik nutzen könne, was vom Grundsätzlichen her in keiner Weise eine falsche Vereinnahmung war. Dann war das 300jährige Händel-Bach-Geburtsjahr 1985, das eine solche Menge von wissenschaftlichen Reflektionen und Aufführungen provozierte, daß der damalige Postminister – hätte er's vorher gewußt – mit Sicherheit nicht die Achtzig-Pfenning-Briefmarke Bach und nur die Sechziger Händel zugeschrieben hätte. Und der vielleicht wichtigste Zugang ist der historischen Aufführungspraxis zu verdanken, durch die Strukturen entschlackt und deutlich wurden. Und nicht zuletzt ist eine stets wachsende Präsenz der Opern Händels auf den Opernbühnen zu beobachten, auf denen immer mehr auch die Oratorien aufgeführt werden.

Das letzte Phänomen – gerade durch große, sozusagen alternative Regisseure wie Harry Kupfer und Herbert Wernicke – trägt der Auffassung Rechnung, daß Händels 32 Oratorien seine eigene Opernreform sind, denn die einst so geliebte italienische „opera seria“ war immer manieristischer geworden (Händel hat als Meister der Barockoper immerhin 46 Opern geschrieben). Er verlegte sein dramatisches Schaffen ins szenenlose Oratorium, und welche dramatischen und bildhaften Imaginationen er hier nur über die Musik beschwören konnte, machte jetzt in geradezu exzellenter Weise William Christie mit seinem Chor- und Instrumen-talensemble „Les Arts Florissants“ im Dom deutlich.

„Israel in Ägypten“ ist in jeder Hinsicht ein Extrem, ja sogar einzigartig in der Geschichte der Komposition überhaupt: Denn es besteht ausschließlich aus 27 Chören (davon 18 Doppelchöre). Nun hat Händel sofort nach der erfolglosen Uraufführung 1738 als Kompromiß einige Solonummern eingefügt, und die hat Christie auch übernommen. Dabei hätte der Dirigent auf die bis zuletzt nicht ermüdende Leistung seines Chores und Orchesters allein ruhig vertrauen können. Was nicht heißt, daß die solistischen Leistungen – hervorgehoben sei hier der Tenor Timothy Robinson – nicht wunderbar gewesen sind. Aber was an unterschiedlichsten Inhalten, Atmosphären und Bildern der Exodus-Geschichte seitens des Chores vermittelt werden konnte, war nichts weniger als großartig: von den verrücktesten Harmoniewechseln (“Er sandte dicke Finsternis“) zu den eingängigen Tonsymbolen für die Teilung des Roten Meeres. Von den großen durchchromatisierten homophonen Klagechören (“Und die Kinder Israels schrien“) bis hin zu den jubelnden Koloraturen des Sieges über die Ägypter. Orchesterteile wurden zu naturalistischem Getöse (“Roß und Reiter stürzt er in das Meer“) oder auch tonmalerischen Bildern (“Er sandte Hagel herab“: herunterstürzende Violinfiguren als regelrechte Hagelkörner).

Das kann man kaum besser machen, da entstanden für die ZuhörerInnen die Szenen perfekt als Imagination. Die Aufführung provozierte ein Interesse an dem Komponisten, der in einigen Köpfen immer noch lediglich als der Komponist des „Messias“ herumspukt. „Israel in Ägypten“ hat einmal mehr gezeigt, daß genau der berühmte „Messias“ zwar sehr schön, aber in keiner Weise typisch für den Komponisten ist. Da gibt es noch viel zu entdecken. Nicht endenwollender Beifall.

Ute Schalz-Laurenze