„So eine Bücherstadt dient dem Humanismus“

Am Samstag wurde in der ehemaligen Militärstadt Wünsdorf die erste Bücherstadt Deutschlands eröffnet. Ein Traum verstaubter Bücherwürmer? Nein, meinen die Investoren. Schon bald soll Wünsdorf zum Touristenmagnet werden  ■ Von Corinna Budras

Bernhard Preuß war sichtlich erregt, als er von der guten Nachricht erfuhr. Sein ganzes Leben lang, sagt er, habe er nach dem zweiten Band von Georges kleinem Handwörterbuch gesucht. Als ihm dann in der „Bücherstadt Waldstadt“ der Antiquar Hartmut König bestätigte, daß dieses Buch noch existiere, hat ihn das in „einen leichten Schockzustand der positiven Art“ versetzt. Hartmut König zeigte sich großzügig beim Anblick von soviel Vorfreude und versprach: „Ich kümmere mich.“

Verprechen, die ein ganzes Leben verändern können. Der Idealfall ist das aber noch nicht. Im Idealfall hätte König geantwortet: „Da gehen Sie mal auf die Straße ins nächste Antiquariat und fragen meinen Kollegen. Der hat mir letztens erzählt, daß er dieses gute Stück noch hat.“ Der Idealfall ist im Moment aber noch reine Zukunftsmusik.

Die „erste Bücherstadt Deutschlands“ in der Waldstadt bei Wünsdorf, die am Samstag eröffnet wurde, steckt, bei Licht betrachtet, noch in den Kinderschuhen. Noch ragen in den ehemaligen Militärgebäuden keine endlosen Bücherregale vom Boden bis zur Decke, und die Tapete in dem bis dato einzigen Ausstellungsraum ist noch immer nicht überflüssig. Außerdem ist es entschieden zu hell, um dem weitläufigen Klischee eines verstaubten Antiquariats zu entsprechen. Mit dem „Bücherfieber in Hay-on-Wye“, der ersten Bücherstadt, die vor 30 Jahren in Wales gegründet wurde, kann die brandenburgische Variante nicht mithalten.

Noch nicht. Das alles soll nämlich ganz anders werden. Zumindest der Grundstein für diesen Wunschtraum ist gelegt: Sieben Antiquariate aus ganz Deutschland haben sich bereits auf dem Areal des früheren Hauptquatiers der russischen Armee niedergelassen. Im Moment sind rund 10.000 alte Bücher in einem Ausstellungsraum des ehemaligen Badehauses vertreten, das schon jetzt als „Haus der Bücher und Geschichte“ bezeichnet wird. Ab Dezember ist dann Platz für mehr: Die Antiquariate können in den geräumigeren Seitenflügel umziehen, der Platz für ungefähr 100.000 alte Sammlerobjekte bietet. Mit einem Verlag aus Braunschweig, der sich in der Nähe der Hauptstadt ansiedeln will, steht man auch schon in Verhandlung.

Damit immer noch nicht genug: Im Büchertraum des Berliner Antiquars Karl-Heinz Than sind auch die angrenzenden Pferdeställe – atmosphärisch besonders reizvoll – mit alten Büchern vollgestopft. Wird der Traum erst wahr, sollen die Menschen einmal in Scharen in die Waldstadt strömen und „in Büchern baden“. Denn: „Konkurrenz belebt das Geschäft, und im Idealfall schieben sich die Kollegen die Kunden zu“, erklärt Than. Mit der neuesten Technik ist dann auch die Suche nach dem ältesten Wunschbuch kein Problem mehr.

Die Zukunftsvisionen der „Entwicklungsgesellschaft Waldstadt- Wünsdorf/Zehrendorf“ gehen sogar in die Richtung einer ganzen Antiquitätenstadt: Neben Bücherrestauratoren und Buchbindereien sollen auch Möbelantiquitätengeschäften zu den vergilbten Seiten stoßen.

Warum ausgerechnet Wünsdorf? Interessant sind für die Investoren in erster Linie die niedrigen Mieten. Außerdem setzen die Antiquariate auf die bereits in den 14 Bücherstädten der Welt erprobte Reisebereitschaft der Bücherjünger. Großer Pluspunkt des Standortes Waldstadt/Wünsdorf ist zudem seine bewegte Vergangenheit. Die über- und unterirdischen Bunkeranlagen erzählen Geschichte: die von der Nachrichtenzentrale der Nazis vor und im zweiten Weltkrieg und später dann die des Hauptquatiers der Roten Armee. Einige Bunker wurden nach der Wende von den Russen gesprengt und stehen – in sich zusammengefallen – für den Wandel der Zeit. Die Ruinen sollen, moosbewachsen und künstlerisch gestaltet, als Landschaftskulpturen die Umgebung atmosphärisch aufpeppen. Sieben noch vollständig erhaltene Spitzbunker stehen später teilweise für Museen und Ausstellungen zur Verfügung.

Auch wenn das alles noch immer ein Traum ist, herrschte bei der Eröffnung der Bücherstadt am Samstag großer Andrang. Mehrere hundert „wetterfeste Sammlerfreunde“ (O-Ton König) strömten bei lesefreundlichem Dauerregen in die noch kleine Bücherstadt, um dieses deutsche Unikum genauer zu begutachten. „Es gefällt“, bekräftigt der Schriftsteller Georg Lentz (wichtigstes Werk: „Märkische Spaziergänge“), der eigens aus dem heimischen Zernikow anreiste. So eine Bücherstadt habe Potential, meint er. „Denn schließlich gibt es ausreichend fahrendes Volk, das alten Büchern hinterherläuft“, weiß Lentz.

Den guten Sammlerstücken kann bereits jetzt jedes Wochenende und ab Januar jeden Tag hinterhergelaufen werden. In sauberen, hellen Bücherregalen stehen Bismarcks gesammelte Werke, immerhin 15 Bände, in unmittelbarer Nähe zu der Specarcius Erkenntnis „Die Russen sind anders“. Günther Grass verzierte seine „Blechtrommel“ mit wertsteigerndem Autogramm, ebenso Wilhelm Pieck, der sein Buch seinem „Freund und Genossen Erich Mielke“ widmete. „Paradestücke“ eben, schwärmt König.

Auch Bernhard Preuß findet nach seinem ersten Teilerfolg in der unendlichen Suche nach dem verlorenen Buch ausschließlich warme Worte für das Bücherprojekt: „So eine Bücherstadt dient dem Humanismus“ findet er. „Schließlich kann man nicht sei Leben lang zwischen Coca-Cola, ,Bild‘ und Neubauten leben.“ Hartmut König, auf der literarischen Behauptung „Bismarck als Pazifist“ gestützt, nickt bedächtig: Besser hätte auch er es nicht sagen können.

Für den Schriftsteller Lentz verbindet sich mit der Bücherstadt allerdings noch eine geheime Hoffnung: „Die Bonner sollen herkommen“, wünscht er sich und schränkt dann ein: „Wenn die überhaupt etwas anderes lesen können als die Memoiren von Adenauer.“