Die Vordenker der Vernichtung

Das Beschweigen und Beschwichtigen ist vorbei: Auf dem 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt am Main wurde aufgearbeitet, daß namhafte Geschichtsforscher der dreißiger Jahre die nationalsozialistische Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik legitimiert haben  ■ Von Ralph Bollmann

Die Zeit der Elefanten ist auch in der Geschichtswissenschaft vorbei. Lange hatten es die beiden Großmeister der Sozialgeschichte verstanden, Trends zu setzen oder ihnen zumindest so geschickt nachzulaufen, daß alle anderen dagegen alt aussahen. Doch auf dem 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt am Main machten Hans-Ulrich Wehler (Bielefeld) und Jürgen Kocka (Berlin) eine schlechte Figur. Hilflos mühten sie sich zu erklären, warum der aufklärerische Anspruch ihrer „historischen Sozialwissenschaft“ stets einen weiten Bogen machte um die Rolle, die die Generation ihrer eigenen akademischen Lehrer im Nationalsozialismus gespielt hatte. Lange wollten die führenden Vertreter der Disziplin nicht wahrhaben, daß namhafte Historiker mit ihren Forschungen die nationalsozialistische Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik legitimiert hatten.

Daher wirkte die Frankfurter Veranstaltung auf die meisten jüngeren Historiker wie ein Befreiungsschlag. Auf dem Podium waren all jene Außenseiter der „Zunft“ versammelt, die die NS- Verstrickung von Historikern gegen erbitterten Widerstand zum Thema gemacht hatten. Im Münchner Historiker Winfried Schulze, der das Thema auf die Tagesordnung des Historikertags setzte, hatten die Rebellen einen einflußreichen Unterstützer gefunden. Auch der Vorsitzende des Historikerverbands, Johannes Fried, empfahl in seiner Eröffnungsrede den widerstrebenden Fachkollegen deutlich die Flucht nach vorn.

„Endlich ist das Beschweigen und Beschwichtigen vorbei“, jubilierte denn auch Peter Schöttler vom Berliner Centre Marc Bloch, und Götz Aly genoß es sichtlich, wie die Ordinarien in der ersten Reihe unter jedem Schlag zusammenzuckten, den er und seine Mitstreiter austeilten. Schöttler zeigte, wie Hitler die Einverleibung Belgiens ins großdeutsche Reich mit jenen Studien über das „germanische Volkserbe in Wallonien“ begründete, die das Bonner „Institut für die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ anfertigte. Noch Ende der 50er Jahre suchten dieselben Forscher mittels Blutproben und Metermaß einen „fälischen Rassetyp“ zu konstruieren.

Aly ließ sich noch einmal die Zitate auf der Zunge zergehen, mit denen Theodor Schieder, nach dem Krieg gefeierter Ordinarius in Köln, im Jahr 1939 für die „Herauslösung des Judentums aus den polnischen Städten“ plädierte. Den Schülern Werner Conzes hielt Aly die Forderung ihres akademischen Lehrers nach einer „Entjudung der städtischen Marktflecken“ entgegen. Er ließ dabei nicht unerwähnt, daß einschlägige Dokumente aus Archiven und Bibliotheken nicht selten auf mysteriöse Art verschwunden seien.

Doch statt den klaren Worten ihres Verbandsvorsitzenden Fried zu folgen, flüchteten sich die Gescholtenen in das aus ihrem Munde so ungewohnte Vokabular der Relativierer und Verharmloser. „Die Entdeckungen schmerzen und treffen mich“, erklärte Wehler zwar, und Kocka sah im „weitgehenden Stillschweigen“ immerhin ein „manifestes Problem“. Doch versuchte Wehler die Angreifer sogleich mit dem absurden Vorwurf zu desavouieren, sie nähmen die Schüler der NS-Historiker in „Sippenhaftung“ und hielten auch deren Ideen für „braun kontaminiert“.

Kocka, der die politische Relevanz historischer Forschung sonst nicht hoch genug ansetzen kann, erklärte gar die „unmittelbaren Folgen“ der völkischen Geschichtsschreibung für „relativ gering“. Das Bild von der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus ändere sich durch die vermeintlichen Enthüllungen allenfalls „in Akzenten und Details“. Da platzte dem renommierten NS- Forscher Hans Mommsen der Kragen. „Wir stehen vor der Tatsache, daß wir die Vordenker der Vernichtung in unseren Reihen haben“, blaffte er seine Kollegen an. Diese Erkenntnis fällt den Historikern um so schwerer, als sich eben jene Wissenschaftler nach 1945 unbestritten als innovative Vordenker erwiesen haben. Ein Schuldeingeständnis würde auch die Frage nach den modernen Elementen des Nationalsozialismus neu aufwerfen.

Die Debatte erwischt die Historiker im ungünstigsten Moment. Hatten sie sich auf ihrer Leipziger Tagung vor vier Jahren noch siegesgewiß gebrüstet, nach der Zäsur von 1989/90 in solcher Blüte zu stehen wie keine andere Sozial- oder Geisteswissenschaft, so herrscht nach dem Goldhagen- Schock des Münchner Historikertags 1996 Katerstimmung. Die öffentliche Begeisterung für die Thesen des smarten Harvard-Professors offenbarte das zutiefst gestörte Verhältnis der deutschen Historiker zum breiten Publikum. Während Goldhagen im Fernsehen Triumphe feierte, mühten sich ergraute Wissenschaftler in Talkshows zu erklären, welche Grundsätze der Quellenkritik der Publikumsliebling verletzt hatte.

Auch auf dem diesjährigen Historikertag war die Abneigung der meisten Historiker gegen alles Populäre deutlich zu spüren. Der Verbandsvorsitzende Fried sprach zwar in seiner Eröffnungsrede von einer „Bringschuld an historischer Aufklärung“, die die Historiker zu erfüllen hätten. Doch über welche Themen und auf welchem Abstraktionsniveau aufgeklärt wird, das möchten die meisten Historiker immer noch selbst bestimmen. So empfanden es viele als Kränkung, daß sich das Medieninteresse fast nur auf die NS-Verstrickung der Historiker konzentrierte – obwohl man sich doch eigentlich der Revolution von 1848 wegen in Frankfurt getroffen hätte.