„Unsicherheit führt nicht zum Protest“

■ Der Münchner Sozialforscher Gerd Mutz über die Arbeitslosen-Demos

Gerd Mutz ist Leiter der Münchner Projektgruppe für Sozialforschung (MPS), die in breitangelegten Befragungen die Befindlichkeiten von Erwerbslosen untersuchte.

taz: In Frankreich sorgten die Erwerbslosenproteste monatelang für Schlagzeilen; in Deutschland dagegen blieb es bei ein paar Demonstrationen, an denen sich nur wenige tausend Menschen beteiligt haben. Woran liegt das?

Gerd Mutz: Man darf nicht glauben, daß die Proteste in Frankreich von allein entstanden sind, als eine Art Graswurzelbewegung. Da standen die Gewerkschaften und die KP dahinter, das sind mächtige Organisationen.

Heißt das, die Gewerkschaften hierzulande waren zu passiv?

Es wäre sicher etwas ganz anderes gewesen, wenn die IG Metall oder die ÖTV solche Arbeitslosenproteste organisiert hätten.

Trotzdem fällt auf, daß sich immer weniger Arbeitslose an den Demonstrationen beteiligten, obwohl die Proteste durch die Medien bekanntgemacht worden sind. Da sprang kein Funke über.

Das ist ein Phänomen, daß wir bei unseren Untersuchungen feststellten: Die Leute ohne Arbeit empfinden sich selbst gar nicht als richtige Arbeitslose. Die beteiligen sich dann auch nicht an Protesten. Die erklären ganz sachlich, warum gerade ihre Stelle weggefallen ist, und sagen, daß sie in ein paar Monaten wieder einen Job haben. Wir Forscher kriegen dann zu hören: „Suchen Sie die wirklichen Arbeitslosen, die sitzen im Schwimmbad!“

Aber die Zahl der ausgegrenzten Langzeitarbeitslosen steigt doch in Deutschland.

Dieser Sockel ist so hoch auch wieder nicht. Unter den Langzeitarbeitslosen sind beispielsweise auch Mütter mit kleinen Kindern, die wegen der Rentenansprüche arbeitslos gemeldet bleiben. Die steigen aber nach ein paar Jahren wieder ein.

Heißt das, die Arbeitslosigkeit ist gar kein so drängendes Problem?

Doch, selbstverständlich. Das große Problem ist die Angst vieler, einmal arbeitslos werden zu können. Diese Unsicherheit zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Nur: Unsicherheit ist eben nicht in Protestform zu überführen. Diese Angst der Beschäftigten führt dann vielleicht dazu, eine rechtsradikale Partei wie die DVU zu wählen. Aber an Arbeitslosenprotesten beteiligen die sich nicht.

War es vielleicht auch falsch, daß sich die Proteste hauptsächlich vor den Arbeitsämtern abspielten?

Die Arbeitsämter waren mit Sicherheit der falsche Adressat. Einmal sitzen da ja Leute, die den Erwerbslosen wirklich helfen wollen. Und zum zweiten sind die Menschen, die dort hineingehen, nicht unbedingt die Ausgegrenzten. Das sind vielmehr Leute, die sich zum ersten Mal arbeitslos melden, die sich beraten lassen, eine Qualifikationsmaßnahme beginnen. Die sagen: Was soll ich mit dem Flugblatt? Ich bin doch noch gar nicht richtig arbeitslos. Interview: Barbara Dribbusch