Tinas Jauchzen zwischen Blut und Elend

■ Zum fünften Mal konzentrierte sich das Oldenburger Filmfest auf amerikanische Filme aus Independent-Produktionen und machte trotzdem Rummel / Einige Impressionen

Kollege ck: „Warum willst du hinterher über Filme schreiben, die man zum großen Teil in unseren Kinos nicht sehen kann?“ – „Weil man an den Independent-Filmen vielleicht was Allgemeines über Amiland erkennen kann.“ – Runen der Skepsis auf Kollege ck's Stirn.

In viel zu vielen Filmen dominieren Liebe, Sex und ähnliche Glibbrigkeiten das Geschehen. Da kann es nicht ausbleiben, daß unsere Männer bald nicht mehr alle neun Minuten an Sex denken, sondern alle fünf, vier, zwei – statistisch gesehen. Wer soll da noch arbeiten können? Noch problematischer ist es allerdings, einen Film über sexuelle Perversionen zu sehen – und der Film ist komplett unerotisch. Der einem das antut, heißt Jonathan Gems. Er zeigt drei Prostituierte bei der Arbeit. Die besteht hauptsächlich aus verbalerotischem Vorspiel. Jede Menge Märchenerzählerei, Nippes und Kostümzauber wird den Ladies abverlangen. „The Treat“ schmunzelt über Männer, die den Hochzeittag simuliert haben wollen oder am liebsten mit ihrer Schwester schlafen würden – und ist selber nur eine einzige lang ausgedehnte Männerfantasie – frauenfreundlich, männerfeindlich, schwarzweiß. Frauen sind lieb, und spenden der Kirche Geld, alle Männer hingegen Volltrottel und sehen auch so aus wie sich schlichte Gemüter Volltrottel vorstellen – außer einem. Der muß irgendeiner Jeanswerbung entsprungen sein und freit seine einzige, große Liebe wie ein mittelalterlicher Minnesänger. Die sagt nein, aber wenn Frauen nein sagen, heißt das bekanntlich ja. Ein bürgerliches Geschlechterrollenklischee nach dem anderen und damit ganz Zeitgeist: je mutiger die Themen, desto biederer die Machart. Obsessionen werden mit der milden Ironie Fontanes geschildert, obsessionslos. Irgendwo ist der Film dann aber doch besessen – nämlich vom seltsamen Ehrgeiz, in 86 Minuten Puff-Innenleben keinen einzigen nackten Busen zu zeigen. Vielleicht aber ist es ja ein positives Zeichen, wenn diese Gesellschaft mit erotischen Seltsamkeiten so nett und entspannt umgeht. Besonders aufregend ist das aber nicht.

„The Treat“ war angekündigt als Weltpremiere. Die Veranstalter zeigen sich sichtlich stolz – „wir sind stolz ...“. Warum eigentlich? Oldenburgs Charme ist es, ein Publikumsfestival zu sein, für alle ausgehungerten Cineasten der Region, kein Filmbusiness-Festival. Die gibt's genug. Nett ist es, ein paar Filmschaffende zu erleben. Und mit diversen Partys und Matineen motiviert man vielleicht sogar den einen oder anderen unbedarften Jugendlichen über seinen Gozilla-Horizont hinauszugucken. Ob es sich aber bei einem Film um dessen Deutschland- oder Europapremieren handelt, wie im Programm mit buchhalterisch-minuziösem Ehrgeiz verzeichnet, ist dem Cineasten wurscht. Welcher Oldenburger Jugendliche hat schon die Kohle für Locarno, Venedig. Lieber ein Klasse-Indie-Film, der schon in Berlin und München lief, als Mediokres, auf das Oldenburg Exklusivrechte in Anspruch nehmen kann (vielleicht nur deshalb, weil der Film für die „richtigen“ Festivals zu schlecht war). Richtig lästig wurde das Streben nach gehobenen Festivalweihen bei der „Punk!“-Premiere. Im seltsamen Bestreben, aus dem Oldenburger Wallring einen Bonsai-Broadway zu machen, ließ man viele, nette Menschen eine Stunde vor dem Kino stehen. Erst hatte man gefälligst Til Schweiger und Co zuzujubeln, ehe man sich in die Kinosessel lümmeln durfte. In der Version des dpa-Tickers hört sich das dann so an: „Schrille Schreie aus Mädchenkehlen begrüßen den Filmstar ... Unter ihnen die 14jährige Tina, die mit dem Starschriftzug in der Hand ,ich bin so glücklich' jubelte.“ Klischees wollen bestätigt werden. Warum erzählt dpa nicht von den vielen Hunderten von Menschen, die stinksauer waren, als Kulisse für lächerlichen Starrambazamba mißbraucht zu werden. Nach dem Film trabte Schweiger auf die Bühne, durchaus willens, Fragen zu beantworten. Es kam keine. Schweiger ging. Eine Farce, wenn die Veranstalter nicht mal in der Lage sind, bei Diskussionsnotstand ein paar Fragen aus dem Ärmel zu zaubern, wenn er schon mal da ist. Ein Festival, das es mit seinem Independent-Anspruch ernst meint, hat es gar nicht nötig, sich auf so läppische Weise einen Namen zu machen. Interessante Independent-Leute, die bereit sind zu kommen, finden sich immer, auch ohne Tinajauchzen.

Interessant zum Beispiel „Shattered Image“. Untermalt von einem aufringlichen, spätromantisch-zerrissenen Soundtrack, bei dem altmodisches, waberndes, dissonantes Geigensäuseln von Bernard Herrmannschem Bedrohungspotential gegenüber dezenten Technoklängen deutlich dominiert, unternimmt der Film den eigentlich aussichtslosen Versuch, den Zuschauer 100 Minuten lang unter Daueratemlosigkeit zu setzen. Wer will schon im Kino ersticken? Eine vergewaltigte Frau leidet unter multipler Persönlichkeitsspaltung. Zwischen ihren verschiedenen Identitäten kann sie ebenso wenig unterscheiden wie zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Dem Zuschauer ergeht es nicht besser. Im Unterschied zu den großen freudianisch untermauerten Hitchcockpsychogrammen wie „Marnie“ und „Verdacht“ geht es diesem Film weniger um eine ernstgemeinte Expedition ins Unterbewußte, als um die Freude an der Verwirrung. Im Drehbuch muß es wohl eine Vorgabe gegeben haben, mindestens alle drei Minuten Perspektive und Verdachtslinien zu wechseln: der Ehemann liebt sie, will ihr schaden, liebt sie, will ihr schaden ... Wie beim Gänseblümchenrupfen nur viel pathetischer. Eine postmoderne Spielerei, die sich kindlich darüber ergötzt, wie wankelmütig der Boden unserer Erkenntnis ist. Mit schaurigen Urwaldtempelszenen, Sex vor Großaquarium mit Hammerhai, blütenweißen Schleiergardinen in weiträumigen Luxushotelsuiten oder blau-rot-designten Toiletten zeigt der Film Mut zu Opulenz, Plüsch, Design. Insgesamt ganz schön.

Richtig toll dagegen „Thursday“. Der Film ist ein Vertreter des Minigenres des „Juppie nightmares“, das Ende der 80er ausstarb, weil sein Opfer, der Juppie, ausstarb. Regisseur Skip Woods stellt hier die Frage, wie viele Ungeheuerlichkeiten einem harmlosen Menschen binnen eines Tages zustoßen können. Das Ergebnis: Vergewaltigung, Ruinierung der Beziehung, mehrmalige Todesbedrohung, Kreissäge, Schweißbrenner... Ein Architekt begegnet seinem dunkleren alter ego in Form des verdrängten Bruders. Der ist Dealer und unter Beschuß. Überhaupt kein teurer Film, aber handwerklich 1 A. So etwas ist möglich! Das lehren solche Festivals. Psychologische Reflexe sind in Schnitte übersetzt: Angst vor einem dubiosen Koffer? Also springt der Koffer in unterschiedlichsten Perspektiven – mal in Nahaufnahme, mal in Entfernung – durchs Bild wie ein wildgewordenes Monstrum. So blutrünstig die Story, die Überraschung liegt immer in Details: Füße schleichen über einen Rasen, schleichen, schleichen, die Person bückt sich – ganz harmlos nach der Frühstückszeitung. Aber auch hier hat sich in Seitenzweigen der Story eine Spur bürgerlichen Wertekitsches eingeschlichen: Wann begreift ein Dealer, daß Töten nicht o.k. ist? Als es eine schwangere Frau erwischt. Die zehn toten Typen davor sind egal.

Richtig Fremdartiges aber gabs auch: „Cannibal – The Musical“ begleitet ein paar Freaks durch den Wilden Westen. Sie singen am Lagerfeuer rührend schlechte, sentimentale Musicallieder, etwa eine Ode auf das geliebte, verloren gegangene Pferd. Und zwischendurch fliegen Leichenteile durch die Gegend. 10.000 Mark von Levi's erhielt „Went to Coney Island“, ein Film über wahre Freundschaft und die Loser des US-Aufschwungs. bk