Ein Freigehege für jedermann

■ Der neue Pamukkale-Brunnen im Görlitzer Park entwickelt sich zur multikulturellen Begegnungsstätte. Alle Bevölkerungsschichten haben ihn akzeptiert, selbst die Grafitti-Sprayer

Wenn das Wasser versiegt, erhebt sich ärgerliches Geschrei am Pamukkale-Brunnen. Dutzende von Kindern, die eben noch fröhlich in den Wasserterrassen geplanscht haben, machen lange Gesichter. Denn es ist 18.30 Uhr, und eben hat Wilhelm Nistl das Wasser abgestellt. Im Keller des ehemaligen Güterabfertigungsgebäudes gegenüber legt der Mann vom Grünflächenamt die Schalter um, die Pumpen hören auf zu arbeiten – Stille kehrt ein am Görlitzer Park; von dem Gemaule der Kinder einmal abgesehen.

Seit zwei Wochen sprudeln die sieben Quellen, die dem monumentalen Brunnen Leben einhauchen. 40 Lkws haben mehr als tausend Tonnen frostharten portugiesischen Kalksteins in das Herz Kreuzbergs gekippt. In zweijähriger Arbeit hat der Archikt Wiegald Witting daraus mit Hilfe professioneller Steinsetzer ein begehbares Wasserkunstwerk geschaffen.

Die Idee dafür liegt weit zurück: 1984 hatte die Freie Planungsgruppe Berlin den Wettbewerb zur Gestaltung des Görlitzer Parks gewonnen. Witting wurde mit dem Bau eines Brunnens beauftragt, der die Kalksinterterrassen im türkischen Pamukkale nachempfinden sollte, „jedoch auf keinen Fall als Kopie des dortigen Originalbrunnens“. Vielmehr wollte Witting „einen Identifikationspunkt schaffen für türkische wie für deutsche Jugendliche“. So sucht der Treffpunkt in Kreuzberg seinesgleichen: für jedes Alter, für jede Nationalität.

In Größe und Form erinnert der Brunnen an ein liebevoll angelegtes Freigehege im Zoo. Für Steinböcke vielleicht. Und in der Tat ist er auch so gedacht: als begehbarer Erlebnisraum, der zum Wohlfühlen einlädt. Ein großzügiges, erdfarbenes Amphitheater, auf dessen Stufen man wunderbar sitzen, liegen und herumklettern kann.

Wenn Wilhelm Nistl morgens um 10 Uhr die Pumpen in Betrieb setzt, kommen als erstes die Kinder. Überall auf dem Stein sind die Abdrücke kleiner Hände zu sehen. Der rote Lehm aus Portugal eignet sich zum Kneten wie zum Malen. Roland Schüssler, Betreuer einer Vorschulgruppe der Kita an der Wrangelstraße 35, kommt seit der Einweihung des Brunnens jeden Tag mit den Kindern hierher. Besonders wegen der Rutsche. Die sieht aus wie ein Elefant: Die Kinder krabbeln auf den Rücken, starten zwischen den aufgestellten Ohren und sausen auf dem überlangen Rüssel nach unten. Und obwohl die Kleinen kaum von hier wegzukriegen sind, hält Schüssler den Brunnen für einen billigen Abklatsch des Originals: „Ein Planschbecken hätte es sicher auch getan.“ Schüssler spielt auf die Baukosten des 3,8 Millionen Mark teuren Projektes an. Denn ab dem Jahr 2000 will der Bezirk die Mietkosten für die Kita nicht mehr übernehmen.

Mittags entern Schulkinder den künstlichen Wasserpark. „Der Brunnen ist cool“, findet der 13jährige Christoph von der Borsig- Oberschule. Und klettert über die dafür vorgesehenen Trittsteine und Treppchen zu dem Rund aus steinernen Säulen, aus deren Mitte eine der sieben Quellen entspringt.

Ein älteres Ehepaar ist extra aus Spandau vorbeigekommen, um die neue Attraktion im Görlitzer Park zu bewundern. Sichtlich beeindruckt von dem Bauwerk äußern sie ihre Abscheu über die Art und Weise, wie die Kreuzberger Jugend das Kunstwerk in der Nacht zu Sonntag in Besitz genommen hat: Auf breiter Front zieren blaue, grüne und gelbe Graffiti den hellen Sandstein. „Denen sollte man die Finger abschneiden!“ fordert das Ehepaar. „Die haben am Wochenende ihren Brunnen eingeweiht“, schmunzelt der Mann vom Grünflächenamt. „Ein Schrei nach Aufmerksamkeit“, weiß Architekt Witting, der von vornherein damit gerechnet hat. Doch sähe er es lieber, wenn die Beleuchtung nachts nicht mehr abgeschaltet würde.

In den Resten des ehemaligen Bahnhofsgebäudes vor dem Brunnen stellt Witting das Modell des Görlitzer Parks aus sowie Fotos von der Brunnenbaustelle. Sein Mitstreiter Guido Schäpe informiert dort über das Projekt und bietet einen besonderen Service an: Kinder können den Müll, den sie auf dem Brunnengelände gesammelt haben, gegen original Brunnensteine eintauschen. Am Eingang liegt ein dickes Gästebuch aus, das bereits halb vollgeschrieben ist, vor allem mit Lobeshymnen. Für Beliha Cicek zum Beispiel vermittelt der Brunnen ein Stück Heimatgefühl. Mit Kinderschrift steht zu lesen: „Ich freu' mich auf den nächsten Sommer.“

Die Betriebskosten für den Brunnen allerdings übernimmt die Stadt nur noch bis Ende September. Aus Kostengründen sind in Berlin fast ein Drittel der 247 Brunnen trocken, obwohl Sponsoren bereits eine halbe Million Mark fließen ließen. Wer die Wasser des Pamukkale im nächsten Jahr wieder zum Sprudeln bringen wird, ist noch ungewiß. Andreas Leipelt