„Hier kannst du Gott spüren“

Ihre Messen nennen sie Kult. Im stockkatholischen Spanien zelebrieren Roma und Sinti ihr eigenes, protestantisches Christentum. Bei ihren Gottesdiensten erklingen Flamenco- und Rumba-Rhythmen und ein Hauch von Gospel  ■ Aus Madrid Reiner Wandler

„Allmächtiger Herr, großer Herr, allmächtiger Herr!“ Es folgt rhythmisches Klatschen, der Chor wird immer lauter, immer schneller. Baß, Schlagzeug und E-Gitarren treiben die Gläubigen an. Der Saal bebt. Es hält keinen mehr auf der Kirchenbank. Der Raum liegt abgedunkelt da. Nur der Altar ist beleuchtet. Pastor Felipe Garcia hat die Arme erhoben. Er steht da wie eine Heiligenstatue im Scheinwerferlicht, als müsse er das ganze Universum auf seinen Schultern tragen. Golden leuchtet hinter ihm die Inschrift: „Gott liebt dich!“ Es folgt ein frenetischer Trommelwirbel, dann läßt er schlagartig die Arme sinken. Es herrscht Totenstille. Alle setzen sich.

„Mit dieser Musik danken wir dir, o Herr, für deine Güte“, schreit der Pastor ins Mikrofon. Es folgt stürmischer Applaus, als wäre der untersetzte bärtige Mittvierziger mit seinem graublauen Anzug und der gelben, mit Hündchen verzierten Krawatte, ein Rockstar. Ein kurzer Blick auf die Uhr, zwei weitere Lobpreisungen, ein Wink und die Band hämmert wieder los. Und abermals reißt die Musik die Kirchengemeinde mit.

Nein, wir sind nicht in den USA, sondern in Spanien, die Musik ist kein Gospel, sondern Flamenco und Rumba, und die Gläubigen sind keine Afroamerikaner, sondern Gitanos, wie die Sinti und Roma hier heißen.

Der Kult – wie sie ihre Messen nennen – wiederholt sich Tag für Tag in einer kleinen Kirche, versteckt im Gewirr der schmalen Gassen des Madrider Flohmarkts „Rastro“. Wer den Ort nicht kennt, findet ihn nur schwer. Ein unscheinbares Holzportal mit schmiedeeisernem Gitter bietet Einlaß. „Jesus sagte: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, heißt es an der Wand der Vorhalle, gegenüber steht ein Getränkeautomat. Eine dunkle Treppe führt hinab in den Gebetsraum.

Ein Durcheinander aus Frauenstimmen dringt herauf – weinerlich, aber laut und deutlich: „Gott ich danke dir dafür, daß du die Schuld von mir genommen hast.“ Das gemeinsame Beten in der stockdunklen Kirche ersetzt die Beichte für die „Schwestern“. Die „Brüder“ bevorzugen das Gespräch im Freundeskreis draußen vor dem Eingang.

Langsam treffen mehr und mehr Gläubige ein. Um die hundert sind es schließlich, unter ihnen viele Jugendliche. Ein Fremder fällt hier sofort auf. „Bist du Christ?“ ist die übliche Frage zur Begrüßung. „Katholisch getauft“, lautet die zögerliche Antwort. Die Reaktion besteht aus einem mitleidigen Lächeln und einer Einladung: „Bruder, warum bleibst du nicht zum Kult? Das ist was ganz anderes als bei den Katholiken, hier kannst du Gott spüren.“ Die Neugierde siegt.

Bis auf die ganz Jungen haben hier alle Bekanntschaft mit der katholischen Kirche gemacht. Gefallen hat sie ihnen nie. Zu stark war sie mit dem Franco-Regime verbunden. Alles Andersartige war damals verdächtig. So auch die ersten protestantischen Missionare einer französischen Pfingstgemeinde, auch sie Gitanos. 1968 begannen sie in den Madrider Slums zu predigen. Ein Unterfangen, das oft mit Polizeigewahrsam und Abschiebung endete. Doch zu spät. „Das Wort war auf fruchtbaren Boden gefallen“, so Pastor Garcia, einer der ersten, der sich der neuen Religion anschloß und sie weiterverbreitete. Evangelische Kirche Philadelphia tauften sie die neue Strömung. „Eine der sieben Kirchen aus der Apokalypse (3,7-13)“, erklärt der Pastor.

Heute zählen sie 50.000 Gemeindemitglieder unter Spaniens einer Million Gitanos. 60 Gebetsräume nennen sie allein in Madrid ihr eigen. Frei gemacht vom beschränkten Gott der Katholiken mit seinen streng vorprogrammierten Messen hätten sie sich, erklärt Pastor Garcia den Hauptunterschied. Was zählt, ist das Gefühl, Gott zu erleben, zu fühlen. Fast jeder hier hatte eine Geschichte, eine Vision, wie sie es nennen, die ihn auf den richtigen religiösen Weg gebracht hat.

Don Clemente, der katholische Priester von der Kirche San Cayetano gleich um die Ecke, erklärt sich den Erfolg der Protestanten ganz einfach. „Die Art Messe mit lauter Musik entspricht einfach der Mentalität der Gitanos.“ Da könne die katholische Kirche mit ihrem Anspruch, Kirche für alle zu sein, einfach nicht mithalten.

Sein protestantischer Kollege zeigt sich von der fundamentalistischen Seite: Musik sei kein Selbstzweck. Sie sei vielmehr „ein Geschenk des Herrn, eingesetzt zu Ehren des Herrn“. Auch wenn Don Clemente keine offiziellen Kontakte mit den „Halleluja-Jüngern“ – wie er sie nennt – pflegt, kennt er die kleine Gemeinde gut. Immer wieder tauchen Philadelphia-Anhänger bei ihm auf und bitten um Hilfe. „Obwohl das hier der reichste Gitano-Stadtteil Madrids ist, sind wir mit unzähligen Sozialfällen konfrontiert“, erzählt er. Der katholische Priester hilft, wo er kann.

„Wir selbst sind dazu leider nicht in der Lage. Wir haben keinerlei Unterstützung durch Steuergelder“, bedauert Pastor Garcia die Untätigkeit seiner Kirche. Hier auf dem Rastro haben fast alle ein mehr oder weniger geregeltes Einkommen, aber in den Slumvororten, wo der größte Teil der Gitano- Protestanten lebt, sieht es schlecht aus. „Selbst ich als Pastor bin nur zu 50 Prozent freigestellt“, beschreibt Felipe Garcia seine eigene Lage. Den Rest verdient er sich wie die meisten Mitglieder seiner Gemeinde: „Ich verkaufe Damen- und Herrenoberbekleidung.“

Der Rastro und die umliegenden Geschäfte sind fest in der Hand der Gitanos. Einzige funktionierende soziale Einrichtung der Philadelphia-Kirche ist eine Drogenentzugsanstalt. „Vor allem Heroin ist ein ernsthaftes Problem unter unseren Jugendlichen“, berichtet der Pastor. Die Religion soll nach erfolgreichem Entzug zur Stabilität verhelfen – wo nötig auch mit Druck. Wer einen schlechten Leumund hat, kann jederzeit aus der Kirche ausgestoßen werden. Das gilt sowohl für harte Drogen als auch für Alkohol. „Ein Gläschen zum Essen ist selbstverständlich erlaubt“, beschwichtigt Pastor Garcia. Nein, eine bequeme Religion wie die katholische, sei dies ganz bestimmt nicht. Wer zweimal dem täglichen Kult fernbleibt, wird zu Hause besucht. Doch „nicht etwa zur sozialen Kontrolle, sondern um zu helfen“, erklärt der Pastor.

Ehre und Anstand, vor allem im Umgang mit Mitgliedern der eigenen Ethnie, tiefverankerte Werte im Weltbild der Gitanos, gehören auch zum Moralgerüst der Philadelphianer. Scheidungen gibt es nicht. Wer einmal sein Leben mit einem festen Partner geteilt hat, darf sich zwar trennen, eine erneute Vermählung, ob mit oder ohne Trauschein, ist jedoch strikt verboten. Unzucht sei dies, nach den Worten der Bibel, erklärt Pastor Garcia die strengen Sitten. Sünden vergeben?

Dieser menschliche Zug der katholischen Religion ist dem Gitano-Gott ganz und gar fremd ist. Abends im Kult erheben sie sich reihum und legen Zeugnis ab von der Gnade Gottes, der ihnen einmal mehr geholfen hat, den rechten Weg nicht zu verlassen, und danken ihm zugleich für den Erfolg im Kampf ums tägliche Leben – oder besser Überleben.

„Du bist mächtig, o Herr, du bist voller Güte, o Herr“ – E-Gitarren, Baß, Schlagzeug erzeugen den Flamenco- Rhythmus. Vor dem Altar fängt ein mit Anzug bekleideter Herr an zu tanzen. Wie in Trance. Die Älteren, ganz in Schwarz, weiter hinten im Halbdunkel des Gebetsraumes, sitzen nach vorne geneigt da, die Arme auf der Lehne der Vorderreihe verschränkt, das Gesicht hineinvergraben. Es folgen improvisierter Stakkatogesang im Gegen-Rhythmus und Lobpreisungen per Mikrophon von der Kanzel herab.

Vorn springt alles auf und singt. Der Raum ist Kirche und Diskothek zugleich.

Da, plötzlich geschieht es. Zum ersten Mal im Leben ertappt sich der unbedarfte Besucher dabei, wie er – in einer Kirche, mitten in einer Messe – rhythmisch mit den Fußspitzen wippt und unter seiner rechten Hand die Gebetsbuchablage zur Trommel wird. War es – wie ihm eingangs versprochen wurde – Gott, den er spürt, oder nur ein profanes weltliches Phänomen?