■ Die CSU hat in Bayern nicht mit einem einfachen „Weiter so!“ gewonnen. Stoibers Sieg fußt auf der Begründung neuer Mehrheiten
: Unterwegs zu einer neuen Mitte?

Im Süden nichts Neues. Oder doch? Die CSU hat ihre herausragende Position souverän behauptet. Die SPD dümpelt wieder unter die 30-Prozent-Marke. Wacker geschlagen haben sich Bündnis 90/Die Grünen. Weit abgeschlagen die FDP. Rechts von der CSU gibt es nach wie vor keine politische Kraft, die Sorge machen müßte. Was lehrt die Bayernwahl?

Erstens: Es war keine Vorentscheidung für die Bundestagswahl. Für die CSU war die Abkoppelung von der Bundespolitik ein Schlüssel zum Erfolg – das läßt sich von der CDU schwerlich nachahmen. Die SPD ist wieder, wie zuvor schon in Sachsen-Anhalt, weit hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben. Es wackelt nach wie vor die Mehrheit der Regierung Kohl im Deutschen Bundestag, und es wackelt, deutlicher als zuvor, die Aussicht auf eine solche Mehrheit für Rot-Grün. Alles andere bleibt offen – und spannend.

Zweitens: Mit Stoibers Triumph endet die zehnjährige Übergangszeit nach dem Tode von Franz Josef Strauß. 1988, nach dem Tod ihres großen Vorsitzenden, hat es niemand für möglich gehalten, daß die CSU auch ohne ihn ihre Position in der bayerischen und in der deutschen Politik behaupten werde. In einer Zeit, in der auch in Bayern das bäuerliche und das katholische Milieu schwächer werden, hat die CSU wieder ein Ergebnis erzielt, das lange vorhält. Bald wird sie vierzig Jahre mit absoluter Mehrheit regieren.

Man mag das demokratiepolitisch bedenklich, man muß die CSU nicht sympathisch finden, und man wird, dies vor allem, beklagen, daß es keine ernstzunehmende Opposition in Bayern gibt. Doch festzuhalten bleibt auch: Nirgendwo in Europa (wo christlich- demokratische Parteien schwächer, die Mehrheiten knapper und die Verfallszeiten von Regierungen kürzer werden) gibt es Vergleichbares. Die Wahl hat diese Ausnahmestellung bestätigt. Sie war in der Tat ein Auftakt zum Wechsel: an der Spitze der CSU und wohl auch der (bayerischen) SPD. Stoiber ist nun der Erbe von Franz Josef Strauß, aber er ist es im Stil, als politischer Typ und im politischen „Angebot“ auf andere Art.

Drittens: Die Erfolge der CSU lassen sich nicht länger erklären auf eine gleichsam mystische Weise: aus den Tiefen und Eigentümlichkeiten der bayerischen Volksseele heraus; weil die Bayern als altes Agrarvolk es eben gewohnt seien, sich in ihr Schicksal zu fügen: in Wind und Wetter und CSU-Regentschaft; oder weil dort eben, aus der nördlichen Reichsperspektive betrachtet, ein etwas zurückgebliebenes Alpenvölkchen lebe. Solche Legenden haben bisher schon zu kurz gegriffen, künftig sind sie nur noch komisch.

Es war ein Arbeitssieg im doppelten Sinn des Wortes, der der CSU jetzt wieder 52,8 Prozent gebracht hat. Honoriert haben die Wähler die Arbeit der Landesregierung (ein erfolgreiches Bündnis für Beschäftigung; eine geringe Staatsverschuldung; wirtschaftliches Wachstum; eine Modernisierung, die den sozialen Zusammenhalt nicht aus dem Auge verlor). Und Stoiber hat landauf, landab Überzeugungsarbeit geleistet, seinen Regierungsanspruch mit politischen Zielen und nicht einfach mit einem „Weiter so!“ oder mit der Angst vor dem politischen Gegner begründet.

Während Theo Waigel unverdrossen, aber gutgelaunt die alten Gespenster von der „Volksfront“ und dem „rot-grünen Chaos“ durch die bayerischen Lande gejagt hat, hat sich die CSU, Stoiber vor allem, angestrengt darum bemüht, Tradition und Moderne, „Laptop und Lederhose“, Kruzifix und High Tech, unter einen politischen Hut zu bringen. Es gab gewiß da und dort den Versuch, mit Hilfe eines kriminellen Jungen („Mehmet“) Ressentiments gegen Ausländer zu schüren, aber es gab keinen Ausländer-Wahlkampf, der den „Republikanern“ Argumente oder Stimmen in die politische Scheune gefahren hätte. Wenn Stoiber durchs Land zieht und „Bayern vorn“ predigt, dann meint er einen vorderen Platz im Wettbewerb der Regionen Europas, nicht eine Stimmungskampagne gegen Ausländer, wie sie Le Pen und Haider inszenieren.

Stoiber arbeitet, wie auf seine Weise auch Wolfgang Schäuble, an einem Projekt, das Beachtung verdient: Wie kann eine Partei mit Widersprüchen leben und erfolgreich sein? Wie kann sie die Spannungen in der Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne, zwischen Freiheiten und Bindungen aushalten und gestalten? „Fortschrittlich“ und „konservativ“ müssen neu definiert werden. Nur so kann es gelingen, Mitte und Mehrheit neu zu arrangieren.

Stoiber und die CSU sind – erfolgreich – dabei, nicht einfach alte Mehrheiten zu behaupten, sondern neue zu begründen. Wenn jeder zweite Jungwähler CSU ankreuzt; wenn die CSU in den großen Städten noch zulegt; wenn sie mehr als die SPD eine Arbeiterpartei ist, dann kann man sich fragen, ob sich hier nicht auf eine etwas andere Weise eine neue Mitte bildet: mit einem neuen politischen Stil, den Stoiber repräsentiert, irgendwo zwischen Technokrat und Manager, nervösem Engagement und politischer Leidenschaft; mit neuen politischen Mischungen zwischen Fortschrittsglauben und Traditionsritualen; zwischen starkem Staat und bürgerlichen Freiheiten; sozialdemokratischer Wirtschafts- und Industriepolitik und katholischer Soziallehre.

Dieser andere Weg zur neuen Mitte, den Stoiber und Schäuble im Visier haben, ist ein erfolgversprechendes Unternehmen, aber auch eine riskante Gratwanderung, stets vom Absturz bedroht in eine eindimensionale Wachstumseuphorie, die keine sozialen, ökologischen und kulturellen Rücksichten mehr kennt; in eine Sicherheitshysterie und Staatsräson, der Grundrechte und -freiheiten vor allem lästig sind; in spätnationale Borniertheiten, daß „Deutschland kein Einwanderungsland“ sei. In jedem Falle verdient dieser riskante Weg zur neuen Mitte eine wache Öffentlichkeit und eine kritische Opposition, der zu diesem Thema mehr einfällt als ein paar Worthülsen und ein paar unkonventionelle Personalvorschläge.

Doch davon kann kaum die Rede sein. Von der SPD braucht zur Zeit niemand zu befürchten, durch einen politischen Gedanken überrascht zu werden. In Bayern hat sich die brave SPD offensichtlich mit den Verhältnissen arrangiert, und was Bonn und Berlin betrifft, so darf man neugierig sein, was ihnen einfällt, wenn sie erst einmal den Finanzierungsvorbehalt als ihre wichtigste Programmaussage entdeckt haben werden. Eine Chance für die Bündnisgrünen? Der Kampf um die neue Mitte hat erst begonnen. Warnfried Dettling