Das alltägliche Sterben unter der Besatzung

Fünf Jahre nach der Unterzeichnung der Prinzipienerklärung von Oslo hat sich in Palästina wenig verändert. Die israelischen Besatzer riegeln das Land weiter ab. Manchmal kostet das Menschenleben  ■ Aus Jerusalem Georg Baltissen

Naama überlebt den Tag nicht, an dem sie geboren wird. Kussai lebt knapp hundert Tage. Und Muhammad al-Karaki stirbt im Alter von 42 Jahren, an einem Herzinfarkt. Niemand kann mit 100prozentiger Sicherheit sagen, ob die drei noch leben würden, wenn ihnen rechtzeitig medizinische Hilfe zuteil geworden wäre. Aber andererseits kann niemand leugnen, daß allen dreien diese Hilfe nur verwehrt wurde, weil sie Palästinenser sind, die unter israelischer Besatzung leben. Es ist nicht so, daß sich die Armee entschuldigen würde. Keinem Soldaten wird ein rechtswidriges Verhalten vorgeworfen. Die Regularien sind eindeutig. Notfälle müssen nicht als solche erkannt werden.

Als Fadwas Mann an der Straßensperre in Hebron anlangt, gibt es schlicht kein Durchkommen. Hebron ist abgeriegelt, und ohne Passierschein lassen die Soldaten niemanden durch, auch keine hochschwangere Frau. Die Armee wird später erklären, daß es sich um ein „Mißverständnis“ handelte. Die Soldaten hätten den „Ernst der Situation“ nicht erkennen können. Asmis Überredungskünste sind jedenfalls vergebliche Liebesmüh. Fadwa al-Adem gebiert ihre Tochter nach einer halbstündigen Fahrt durch den hügeligen Süden des Westjordanlandes im Auto, einem klapperigen, alten Peugeot. Eine weitere Stunde irrt das Paar, begleitet von den Großmüttern, durch die Gegend, um einen Weg zum Ahli-Krankenhaus in Hebron zu finden. Als sie endlich ankommen, ist Naama tot. Woran das Mädchen gestorben ist, kann der behandelnde Arzt nicht sofort sagen. Aber daß es größere Überlebenschancen gehabt hätte, wenn es früher in der Klinik gewesen wäre, daran besteht kein Zweifel. Normalerweise hätte die Fahrt zum Krankenhaus nicht mehr als zwanzig Minuten gedauert.

Es sind nur hundert Meter, aber sie machen den Unterschied aus. Das Haus der Familie Tamimi steht im israelisch kontrollierten Teil von Hebron. Und eben dieses Faktum ist es, das über das Schicksal des kleinen Kussai entscheidet. Die Mutter Schirin hat im Mai dieses Jahres Drillinge bekommen, und das im siebten Monat. Dennoch entwickeln sich die Kinder gut und gewinnen an Gewicht. Luai, Narmin und Kussai wiegen mehr als sieben Kilo. Ende August wird Kussai krank. Er hat Fieber, wenn auch nicht in gefährlicher Höhe. Solange das Kind nicht erbricht, entscheidet der behandelnde Arzt, sei ein Krankenhausaufenthalt nicht erforderlich. Dennoch ordnet er eine Kontrolluntersuchung an, alle zwei Tage. Kussais Zustand ist unverändert.

Alles Flehen und Weinen der Mutter ist umsonst

Erst am fünften Tag der Krankheit erbricht er sich, und die Mutter will ihn, ärztlichem Rat folgend, ins Krankenhaus bringen. Doch der israelisch kontrollierte Teil Hebrons steht jetzt unter Ausgangssperre. Alles Flehen und Weinen der Mutter ist umsonst, die Soldaten vor dem Haus verweigern der Mutter den Weg ins Krankenhaus. Als eine Gruppe Jugendlicher in der Straße auftaucht, werden die Soldaten abgelenkt. Schirin rennt, das Kind im Arm, durch die Gärten, bis sie an einen palästinensischen Checkpoint kommt. Der Weg kostet sie mehr als eine Stunde.

Wenige hundert Meter vom Krankenhaus entfernt merkt Schirin, daß Kussai nicht mehr atmet. Im Krankenhaus angekommen, kann der Arzt nur noch den Tod des Kindes feststellen. Die Beerdigung Kussais auf dem islamischen Friedhof oberhalb der Schuhada- Straße im israelisch kontrollierten Teil Hebrons, wo sich das Familiengrab befindet, wird den Tamimis verwehrt. Es herrsche Ausgangssperre, lautet die Begründung. Kussai muß an anderer Stelle beigesetzt werden.

Mehrmals ruft die Familie Karaki den Notruf an. Tatsächlich braucht die israelische Ambulanz nur wenige Minuten, um im palästinensischen Flüchtlingslager Schufat im Norden Jerusalems zu erscheinen. Doch ohne militärische Begleitung will sie nicht ins Lager fahren, das erst vor zwei Wochen Ort heftiger Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischer Grenzpolizei war. Solches Verhalten sei juristisch korrekt, entschied der oberste israelische Gerichtshof bereits vor einem halben Jahr. Doch die militärische Begleitung läßt auf sich warten, geschlagene anderthalb Stunden. Laut Gerichtsurteil sollte sie freilich sofort eintreffen. Muhammad Karaki (42) stirbt unterdessen nach einer halben Stunde an einem Herzinfarkt. Erboste und wütende Palästinenser liefern sich anschließend eine Schlacht mit den zu spät eingetroffenen israelischen Soldaten. Sechs Palästinenser und fünf Soldaten werden im Verlauf der Auseinandersetzungen verletzt.

Schufat, das heute mehr einem Vorort als einem Flüchtlingslager gleicht, wird von der Armee belagert. Die Suche nach den Steinewerfern beginnt. Fenster der Schule in Schufat werden von Soldaten eingeschlagen, Dutzende Palästinenser festgenommen. Um die Gemüter wieder zu beruhigen, geht die israelische Armee zwei Tage später auf eine sulha ein, ein Versöhnungstreffen. Der zuständige Kommandeur der israelischen Grenzpolizei und palästinensische Notabeln aus Schufat arrangieren ein Treffen, um die entstandenen „Mißverständnisse“ aus der Welt zu räumen. Doch nicht nur für die Familie Karaki, sondern auch für die Familie Nasser kommt diese sulha zu spät. Die 41jährige Mutter von vier behinderten Kindern ist tot. Sie starb am Mittwoch vergangener Woche an einer Schußverletzung, die sie bei den Auseinandersetzungen erlitt. Dabei wollte sie lediglich zum Einkaufen gehen, als eine aus der Nähe abgefeuerte gummiummantelte Stahlkugel in ihren Mund eindrang und beim Austritt im Nacken eine Arterie verletzte. Ihre vier behinderten Kinder im Alter von 10 bis 17 Jahren sind jetzt Waisen. Der Vater verstarb vor vier Jahren. Die israelische Polizei ordnete den Zeitpunkt für die Beerdigung der Toten an. Sie wurde am vergangenen Donnerstag auf dem islamischen Friedhof nahe der Altstadt beigesetzt, um Auseinandersetzungen am Freitag, dem muslimischen Feiertag, zu verhindern. Mehr als 300 Menschen nahmen an der Beisetzung teil.