Analyse
: Die Macht der Richter

■ Die Regierung in Peking propagiert den Aufbruch Chinas zum Rechtsstaat

Jedem Besucher ein Bonbon: Im Juni durfte US-Präsident Bill Clinton als erster die angebliche Bereitschaft der chinesischen Führung zum Dialog mit dem Dalai Lama verkünden. Jetzt bekam die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, während ihres ersten China-Besuchs das Versprechen der chinesischen Regierung, daß Peking noch im Oktober das UN-Abkommen über die bürgerlichen und politischen Rechte unterzeichnen werde. So kommt der mühsame Menschenrechtsdialog mit China langsam voran – oder auch nicht.

Schon Bill Clinton wußte nicht genau, wann und wo Chinas Staatsführung mit dem Dalai Lama reden will. Und auch Mary Robinson vermochte gestern zum Abschluß ihres Besuches nicht zu sagen, welche konkreten Folgen die chinesische Unterschrift unter dem UN-Abkommen zeitigen wird. Da drängt sich der Verdacht auf, daß die chinesische Regierung die Welt zum Narren hält.

Dem ist nicht ganz so. Es gibt durchaus Fortschritte in der chinesischen Menschenrechtspolitik. So teilte die Pekinger Rechtszeitung am Montag mit, daß seit Januar dieses Jahres 5.000 Richter diszipliniert wurden. 8.110 Fehlurteile sollen revidiert worden sein. Zudem berichtet das Fernsehen seit wenigen Wochen regelmäßig aus dem Gerichtssaal – einer Institution, vor der jeder Chinese bisher nur zittern konnte. Auch bei der Anwendung der Todesstrafe scheint nicht alles beim alten zu bleiben: Laut amnesty international ging die Zahl der vollstreckten Todesurteile von 4.367 im Jahr 1996 auf 1.876 im Jahr 1997 zurück. Zudem konnte Mary Robinson in Peking mit Kritikern der exzessiven Anwendung der Todesstrafe zusammentreffen, eine Begegnung, die sie anschließend als „sehr ermutigend“ charakterisierte.

Doch anderswo hält sich Peking bedeckt. Tibet ist das beste Beispiel: Über die zehn gemeldeten Todesfälle Anfang Mai in einem tibetischen Gefängnis ist von den Behörden bisher keine Silbe zu erfahren gewesen. Allein dieser Vorfall deutet auf die andauernde Unterdrückung des tibetischen Klosteradels, der offiziell zu „Umschulungen“ herangezogen wird, doch im Zweifelsfall wohl in der Folterkammer endet. Mary Robinson sprach hier nur von „Menschenrechtsverletzungen, großen Menschenrechtsverletzungen“ in China.

An diesem Tatbestand besteht denn auch kein Zweifel, wobei die annäherend 2.000 politischen Gefangenen, die westliche Menschenrechtsexperten heute in China zählen, nur die Spitze des Eisbergs bilden. Für die Mehrheit der Chinesen stellt immer noch die alltägliche Rechtsunsicherheit die größte Bedrohung dar. Wer einen Apfel klaut, muß befürchten, dafür Monate ins Gefängnis zu wandern. Georg Blume