Kastensystem der Korruption

■ Jean Renoirs Gesellschaftsportrait Die Spielregel reiht Demütigungen an Rehbraten

Den ganzen Atlantik hat er überflogen, damit sie ihn sieht. Doch Christine sitzt vorm Schminktisch und läßt das Spektakel von ihrer Zofe schildern. „Nur eine Frage des Materials“, sagt der gefeierte Pilot Julien zu einer Reporterin. Und mit der Leidenschaft ist es das gleiche: alles eine Materialfrage. Eine Frau wie Christine „versteht sich nunmal nicht auf Amouren. Sie ist keine Pariserin.“

Die Tochter eines österreichischen Dirigenten und Frau eines reichen Parvenues ist genau aus jenem Stoff, mit dem der spätimpressionistische Mensch seine Weltgewandtheit unterfüttert. Gefühle und hamletsche Krisen streift er sich über wie ein edles Gewand, das man vor dem Dinner besser noch einmal wechselt. Nur Octavian, der brave Hausfreund nimmt das Regelwerk dieser Attitüden mit mokanter Nachsicht: „Sie ist eine Frau von Welt, und die hat ihre Regeln.“ Um nichts anderes geht es denn auch in Jean Renoirs La règle du jeu(Die Spielregel).

Ein „fröhliches Drama“ sollte es werden. Eine Art Hochzeit des Figaro, in dem Küche und Personaleingang ebensoviel Raum bekommen wie Gemächer und Salon, und in dem die Bediensteten selbst bis zur Hysterie ihren wankelmütigen Begierden nachgehen. Auch Julien, der Flieger „außerhalb aller Klassen“ (Renoir) taugt da nicht als anarchistischer Vorkämpfer. Seine Landung inmitten einer gelangweilten Großbourgoisie macht ihn zur Zielscheibe der eingeläuteten Flugententreibjagd.

Noch in der heitersten Posse versteckt Renoir die bösartigsten Affekte. Mit scharfer Ironie und Objektiven, die Vorder- und Hintergrund die gleiche Schärfe geben, malt Jean Renoir sein unversöhnliches Gesellschaftsportrait. Nervenzusammenbrüche, Duelle und Demütigungen reiht er zwischen Cocktail und Rehrücken mit Preiselbeeren zur Nummernrevue. „Die Spielregel“, ein Kastensystem der sanktionierten Lüge und der selbstverständlichen Korruption. Wer sich darauf versteht, kann es sich noch in jeder Katastrophe gemütlich machen.

Als „demoralisierend“ setzte die Militärzensur La règle du jeu 1939 auf den Index. Trotz Zensur, Kritikerschelte und kommerziellem Mißerfolg, Renoirs Werk, mit seiner Demokratisierung der filmischen Mittel und Details, in dem der Säbel überm Kamin ebenso wichtig wird wie das Kartoffelmesser, wurde 30 Jahre später von Rivette wegen seiner Konstruktion und „Unruhe“ als Meisterwerk des essayistischen Films gefeiert. Und als solchen stellt ihn Thomas Tode in seiner Reihe „Abenteuer Essayfilm“ im Metropolis nun nocheinmal vor.

Für Renoir selbst, der sich zeitlebens von seinem Vater Auguste abzusetzen versuchte, zeigte sich in La règle du jeu, der väterliche Einfluß am deutlichsten: „Seiner Vorstellung nach war die Welt ein Ganzes, gebildet aus ineinander verschachtelten Teilen. Ihr Gleichgewicht hängt von jedem einzelnen Stück ab.“ Und damit nach Juliens Bruchlandung alles wieder an seinen Platz kommt, wird gleich mit allem aufgeräumt.

Birgit Glombitza

mit Einführung: Do, 17., 21.15 Uhr. Fr, 19., 19 Uhr: Sa, 20., 21.15 Uhr; Di, 22. September, 17 Uhr, Metropolis