Faszinierende Partitur-Vergewaltigung

■ Roger Norrington und Orchester zerpflücken in der Glocke Tschaikowsky und Bruckner

Gülden strahlte die Oberbekleidung der Geigerinnen. Irgendwie passend. Schließlich heißt Roger Norringtons Klangkörper „Orchestra of the Age of Enlightenment“. Erleuchtung und Aufklärung, zwei verschiedene Dinge? Es scheint sein Programm zu sein, über den Umweg der Rationalisierung und Ernüchterung zu einer neuartigen Intensität und Verzückung vorzustoßen. Wer wollte, konnte das Konzert in der Glocke als Diskussion der Frage auffassen: Wieviel Aufklärung will/braucht/verträgt man eigentlich? Bei der überspielten Tschaikowsky-C-Dur-Serena-de, die bei Classic Radio durch die Programm-Dauerschleife säuselt, überzeugt diese radikale Entsentimentalisierung, bei Bruckners 4. Sinfonie irritiert sie zu einem Drittel un-, zu zwei Dritteln angenehm.

Bezeichnend der 3. Satz bei Tschaikowsky: An der Stelle, wo sich nach Tonleiteraufstieg ein launig-übermütiges Terz-Hochschnackeln als Hörerwartung ins Trommelfell eingefressen hat und die Geigenbögen lustig von den Saiten springen, geschieht beim Aufklärungsorchester rein gar nichts. Ein Boykott. Wenige Takte weiter aber säbelt es ein kleines hohes Geigenmotiv drastisch heraus. Es gilt die Devise: Nur nicht in Kitsch-Fallen tappen, dafür aber Randständiges in den akustischen Vordergrund rücken. Gerne akzentuiert Norrington zentrale Töne der Baßlinien, die sich zu einem übergeordneten, simplen Rhythmus zusammenschließen. Der swingt dann nicht weich, sondern rockt geradlinig und robust, wie die Rolling Stones, zumindest fast.

Mit der Authentizitätssuche der historischen Aufführungspraxis hat solche Interpretation nichts mehr zu tun. Ganz im Gegenteil: Norrington nutzt deren Bogen- und Phrasierungstechnik, um Tschaikowski richtiggehend zu unterwandern, zu desavouieren und dadurch neu hörbar zu machen: Etwa, wenn er am Beginn des 3. Satzes Legato-Erwartungen hintergeht und, statt Spannung zu halten, Töne sanft ausklingen läßt; oder am Beginn des 4. Satzes, wo Sinneinheiten in Einzelteile zerrupft werden. Einer Masche folgt Norrington aber nicht: Mal läßt er so satt, saftig, schlicht und nuancenlos dahinschunkeln, daß man sich gar nicht mehr ganz sicher ist, ob es sich dabei um eine genialische Entzauberungsmaßnahme oder eine Banalität handelt; mal hört man leise, langsame Töne bis in die letzten Frequenzverästelungen hinein.

Beim zweiten Programmpunkt „Bruckner“ steht fett und breit im Programmheft „Die Romantische“ und „1. Satz: bewegt, nicht so schnell“. Natürlich spielt das Aufklärungsorchester „so schnell“, daß rhythmische Verzahnungen von flinken Begleitfloskeln zwangsläufig ungenau werden. Viel enttäuschender und/oder spannender ist aber die komplett antihymnische Auffassung des Bläsermotivs und das anti-sehnsüchtige Anpacken leiser Töne. Und wenn immer mal wieder die Stimme des Individuums, Oboe oder Geige, aus schnell-zirpenden Streicher-Teppichen erhaben und scheu wie aus Urnebel heraussteigen sollte, dann waltet bei Norrington Profanität. Es geht darum, Gewohntes zu unterdrücken, um Ungewohntes zu entdecken. Das gelingt im Kleinen wie im Großen: Hier wird eine nach oben schnelzende Querflötenfloskel plötzlich interessant, dort ein ungeahnter Zusammenhang sichtbar. Dieser Anti-Bruckner hört sich zumindest interessant an. Für die berühmte einsame Insel würde man sich aber doch für eine andere Interpretation entscheiden.

Norringtons Verachtung jedes Getues reicht bis in die Körpersprache hinein. Viele DirigentInnen dirigieren eigentlich gar nicht, sondern betätigen sich als BallettänzerInnen, als müßten sie selbst in jedem einzelnen Moment auf magische Weise den Klang gebären, als könnten sie mit einer kleinen Windung der äußersten Spitze des Ringfingers oder durch ein kluges Zucken mit dem Schulterblatt noch alles zum Guten wenden. Norrington dagegen wedelt in der Regel unelegant und spannungslos mit den Armen wie eine Gliederpuppe. Schließlich wissen die Musiker aus den Proben, was sie zu tun haben. Ein Aufklärer eben. bk