"Die Zeitvorsprünge schmelzen weg"

■ Jeder konnte den Bericht zur Clinton-Lewinsky-Affäre genauso schnell im Internet abrufen wie der mächtigste Mann der Welt. Der Medienforscher Hans Kleinsteuber leitet aus dem Fall ab, wie das Netz die Kräfte in Politik und Journalismus verschieben wird

taz: Auf dem Server des US-Repräsentantenhauses gingen 50mal mehr Anfragen ein als sonst, als der Bericht von Sonderermittler Kenneth Starr zur Lewinsky-Affäre ins Netz gestellt wurde. Beim Anbieter AOL stieg der Verkehr um 30 Prozent. Noch nie haben so viele Menschen so schnell ein brisantes politisches Dokument lesen können. Hat das Internet eine Schicksalsstunde erlebt?

Hans Kleinsteuber: Ich denke schon. Wir haben wie in jeder Generation neuer Kommunikationstechnik einen Punkt, an dem Politik und Gesellschaft neue Anwendungsformen entdecken. Beim Radio war das in Deutschland die Hitler-Propaganda, die sich des neuen Mediums bemächtigte. Fürs Fernsehen war das erste wirklich große Ereignis die Ermordung Kennedys, von der eine Amateuraufnahme x-mal gezeigt wurde und die so die Menschen erstmals unmittelbar ergriff. Der Golfkrieg war die große Zeit des Nachrichtenkanals CNN. Und das Internet wird nun mit diesem verrückten Starr-Bericht als politischer Kommunikationsraum erschlossen und endgültig zum Massenmedium.

Jeder kann sich im Internet nun mit Originaldokumenten seine Meinung bilden: Die Reinform der direkten Demokratie?

Direkte Demokratie wäre das erst, wenn auch übers Internet abgestimmt würde – dann wäre das Netz revolutionierend. Allerdings haben wir eine ganz neue Transparenz und Zugänglichkeit politischer Dokumente. Daß das ausgerechnet mit einem Schmuddelbericht beginnt, wo Sie beim Suchwort „oral sex“ 20 Fundstellen bekommen, ist eher bedauerlich.

Neu ist auch die Geschwindigkeit, in der sich die Menschen informieren können. Was heißt das für die Politik?

Inzwischen benutzen so viele Menschen das Internet, daß sich damit auch die politische Auseinandersetzung wandelt. Die Politiker hatten bisher ja einen irrsinnigen Informationsvorsprung, weil sie an der Quelle saßen. Und wir Bürger draußen im Lande mußten sehen, daß wir denselben Informationsstand erreichen. Diese Zeitlücke fällt weg, indem die Bürger im selben Moment Zugriff auf Dokumente haben wie in diesem Fall der mächtigste Mann der Welt.

Clintons Berater mußten Gegenstrategien entwickeln, ohne den Bericht im Detail zu kennen.

Das war eine Gemeinheit der Republikaner. Aber im Prinzip herrscht durch das Wegschmelzen von Zeitvorsprüngen eine größere Waffengleichheit insofern, als alle Interessierten gleichzeitig Zugriff zu den Informationen haben. Das war hier vielleicht ein Problem von Clinton, aber nicht ein Problem einer offenen Bürgergesellschaft. Politiker sind ständigen Veränderungsprozessen ausgesetzt und müssen eben lernen, damit umzugehen.

Bisher waren die Journalisten dafür zuständig, den Menschen Originaldokumente in ihren Berichten zu übermitteln. Jetzt können sich das die Leute selber im Internet angucken. Entmachtet das Internet die Journalisten?

Sie werden eine andere Rolle übernehmen. Aber ich bezweifle, daß Journalisten überflüssig werden. Wir bewegen uns in einem riesigen Informationsdschungel und haben dort Hilfe bitter nötig. Journalisten müssen uns durchlotsen.

Früher konnten sich die Leute von TV-Kommentaren und Leitartikeln anregen lassen, nun gibt es im Internet haufenweise Diskussionsforen, in denen Meinungen ausgetauscht werden. Verlieren die traditionellen Medien dadurch ihren Einfluß?

Ich glaube, ja. Der Journalist als Meinungstrendsetter verliert an Bedeutung. Die Leute werden in den Chat-Foren diskutieren und sich aus dem neuen Informationsangebot selber ihre Meinungen erarbeiten wollen.

Journalisten als reine Informationsmanager?

Ich würde sie anders nennen: Transportarbeiter und Moderatoren in einem mehr fakten- und themenorientierten Journalismus.

Gewinnen auf der anderen Seite die Politiker durchs Internet an Macht, weil sie Dokumente über Gegner ins Internet stellen können, die keine Zeitung druckt?

Das wird auf jeden Fall passieren. Es wird Verleumdungskampagnen in einer ganz neuen Qualität geben. Wir müssen sehen, wie wir damit umgehen. Das wird eine Frage der politischen Ethik, aber auch der Gerichte sein.

Ist das kontrollierbar? Eine Internet-Kampagne können Sie doch von irgendeiner Insel aus führen.

Das können Sie im Prinzip von einer Pazifikinsel aus machen. Ich bin sicher, daß das passieren wird, und es ist dann nicht zu verhindern, daß irgendeine Niedertracht ins Netz kommt. Doch dann sind wieder die Journalisten gefragt. Sie werden im Auftrag der Bürger ausforschen müssen, wie glaubwürdig eine Information ist.

Eine Prüfung im nachhinein?

Ja. Etwa durch eine Bewertungsagentur, die fragt: Kennen wir den, der eine Nachricht verbreitet? Wie glaubwürdig war er bisher? Vielleicht würden dann Glaubwürdigkeitsquotienten angeboten, die sagen: Diese Nachricht steht im Netz, aber die Glaubwürdigkeit ist nur zwei Prozent.

Der Journalist wäre dann nicht mehr Torwächter, der Nachrichten aussondert, sondern Begleiter?

Genau das. Bisher war er Gatekeeper, der sagen konnte: Diese Nachricht lasse ich durch, diese nicht. Das wird verschwinden. Es wird ähnlich kommen, wie wir Kredite und Anleihen am Geldhandel kommentieren und fragen: Wie sicher ist denn der, der diese Papiere herausgibt? Genauso wird es künftig mit politischen Informationen sein. Interview: Georg Löwisch

loewisch@taz.de