"Politisch ist Clinton so gut wie tot"

■ Die Europäer staunen nur noch über den Umgang der Amerikaner mit der Sexaffäre von US-Präsindent Clinton. Alberta Sbragia, Politologin an der Universität in Pittsburgh, über die Ursachen der etwas an

taz: Können Sie uns Europäern erklären, warum die Weltmacht USA ihrem Kaiser die Kleider vom Leibe reißt?

Alberta Sbragia:(lacht) Das ist in der Tat sehr schwierig zu erklären, weil das Land selbst seinem Kaiser nie die Kleider entreissen wollte. Wir sind durch eine obskure Erscheinung in diese Situation hineingeschlittert, nämlich durch einen Sonderermittler.

Das müssen Sie uns erklären.

Niemand hat vorausgesehen, daß ein Sonderstaatsanwalt einmal ein derartiges Gewicht bekommen könnte und seine Ermittlungen mitten ins Zentrum des politischen Staates hineinreichen würden. Vorgänger Starrs haben sich zum Beispiel in der Iran-Contra-Untersuchung auf sehr konkrete Bereiche beschränkt. Doch mit Starr hat der Sonderermittler jetzt eine viel zu große Machtbefugnis bekommen. Dies können Sie daran sehen, daß er von einem Untersuchungsgegenstand zum nächsten wechselte – von Whitewater bis zu Lewinsky. Dies war nie die Absicht des Gesetzgebers, und deshalb muß das Gesetz geändert werden.

Den Europäern fällt auf, daß ein Bill Clinton in einem sehr privaten Bereich zu Aussagen veranlaßt wurde. Wie kommt es, daß das Sexleben eines Präsidenten nicht geheim bleiben kann?

Das angelsächsische Recht verfährt nach dem Unmittelbarkeitsverfahren. Dies hat in der Rechtsprechung über sexuelle Belästigung dazu geführt, daß Angeschuldigte auch Fragen nach ihrem früheren sexuellen Verhalten beantworten müssen; denn das Gericht will sehen, ob sich im konkreten Fall ein Verhaltensmuster zeigt. Oder anders gesagt: Wenn Paula Jones den ehemaligen Gouverneur von Arkansas nicht wegen sexueller Belästigung eingeklagt hätte, wäre der heutige Präsident nie in die peinliche Lage gekommen, im Fall Paula Jones Angaben zu seinem Verhältnis mit Monica Lewinsky machen zu müssen.

Die französische Justizministerin Elisabeth Guigou hat erklärt, in Frankreich werde – anders als in den USA – privates und öffentliches Verhalten eines Politikers klar getrennt. Stimmen Sie zu?

Ja. Amerikanerinnen und Amerikaner haben eine sehr dezidierte Vorstellung darüber, was eine Ehe ist, und sie würden Affären, wie sie zum Beispiel von François Mitterrand bekanntgeworden sind, auf keinen Fall hinnehmen. Vergessen Sie nicht, daß die Amerikanerinnen und Amerikaner viel religiöser sind als Franzosen und mehr als die Hälfte der Bürger in den USA regelmäßig zur Kirche gehen. Es gibt ein tiefes Gefühl dafür, was als Verhalten angebracht ist und was nicht. Daß viele Bürger den hohen Maßstäben selbst nicht gerecht werden, ist eine andere Sache, ändert aber nichts an ihren Auffassungen.

Das Wühlen im Privatleben wird oft auch damit begründet, daß der Charakter eines Präsidenten entscheidend sei für die Frage, ob er die Nation anführen könne.

Der Präsident verkörpert in den Vereinigten Staaten eine symbolische Dimension, welche in Europa durch einen König oder eine Königin repräsentiert wird. Gleichzeitig hat er Funktionen, wie sie in Europa von einem Regierungschef oder einem Premierminister wahrgenommen werden.

Lassen sich daraus die unterschiedlichen Urteile über Bill Clinton erklären?

Ja. Wenn die Leute auch heute von Clinton sagen, er sei ein guter Präsident, dann meinen sie damit sozusagen den Premierminister, dessen Arbeit eine Mehrheit positiv bewertet. Wenn die Leute ihn hingegen als moralisch kompromittierten „Leader“ bezeichnen, dann meinen sie die Autorität der Präsidentschaft.

Warum hat die Washingtoner politische Klasse – Politiker, Zeitungskommentatoren – den Präsidenten viel lauter zum Rücktritt aufgefordert als die allgemeine Bevölkerung?

Wenn die symbolische Dimension des Präsidenten verletzt wird, trifft dies den Kongreß weit mehr als das Land selbst, denn dem Präsidenten kommt unter den Staatsgewalten die Führungsrolle zu.

Gilt das, was Sie über den Kongreß sagen, auch für Kommentatoren und die politischen Experten, die sogenannten „pundits“?

Ja, die politische Elite in den USA schaut zum Präsidenten auf und erwartet, daß er die Themen setzt. Das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert war der Kongreß, also die Legislative, die dominierende Gewalt. Erst im 20. Jahrhundert ist die Autorität des Präsidenten in einer Art gewachsen, wie es sie in keinem europäischwn System gibt.

Wo sehen Sie die Parallelen zwischen der Clinton-Lewinsky- Affäre und Nixons Watergate?

1972–1974 war der Ablauf des Skandals viel langsamer und es wurden unzählige Hearings und Debatten veranstaltet. Damals ging es nicht um Fragen der persönlichen Moral, sondern um den Mißbrauch von Institutionen wie der CIA und des FBI bei der Vertuschung strafbarer Handlungen.

Und warum läuft das heute alles so viel schneller ab?

Die Medienszene ist völlig anders als damals, als es nur die großen drei TV-Ketten und kein Kabel oder Internet gegeben hat. Zudem war Watergate eine überaus komplizierte Geschichte und die Leute brauchten lange, um den Sachverhalt zu begreifen. Dies ist beim süffigen Skandal von heute anders.

Wenn Sie eine Voraussage machen müßten: Welche Stolpersteine sehen Sie für Clinton in den kommenden Wochen und Monaten?

Die Meineid-Frage ist der kritischste Punkt. Am schlimmsten wäre, wenn wichtige Kongreßabgeordnete sagen: „Er lügt über seine Lügen.“ Dazu gilt: Wir wissen nicht, was noch alles entdeckt wird.

Und was ist mit seiner Regierungsfähigkeit?

Die symbolische Dimension seines Amtes, seine Autorität, ist zerstört worden. Auch wenn Clinton an der Macht bleibt, er wird deshalb politisch so gut wie tot sein – außer natürlich im Fall einer außenpolitischen Krise. Interview: Thomas Rüst, Washington