Mord-Prozeß
: „Realitätsfremd“

■ Mutter vermindert schuldfähig?

Die 41jährige Frau, die Ende Januar ihre elfjährige Tochter umgebracht hat, ist unter Umständen vermindert schuldfähig. Die Angeklagte, die sich derzeit wegen Mordes vor dem Landgericht verantworten muß, leide unter einer narzistischen Persönlichkeitsstörung, so daß eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nach Paragraph 21 des Strafgesetzbuches nicht auszuschließen sei, sagte Lothar Rödszus, psychiatrischer Gutachter des Zentralkrankenhauses Ost, vor Gericht. Für die Angeklagte könnte das Gutachten weitreichende Folgen haben: Eine verminderte Schuldfähigkeit wirkt sich mildernd auf die Strafzumessung aus. Wenn das Gericht die Einschätzung des Gutachters teilt, muß die Frau nicht mehr mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen. Wie berichtet, war die Angeklagte mit ihrem Reisebüro pleite gegangen und wollte ihrer Tochter – so ihre Aussage über das Motiv – ein Leben in Armut ersparen.

Mit einem Picknickkorb empfing die Frau den Gutachter in der JVA Blockland, um bei Plätzchen und Tee mit ihm über den Tod ihrer Tochter zu sprechen. Diese „Besänftigungsversuche“ seien ihm nicht entgangen, so Rödszus. Die Angeklagte neige zu „realitätsfernen Idealisierungen“ und „fast pubertär anmutenden Übertreibungen“. Das beziehe sich auch auf die Tochter. Sie habe das Kind ihm gegenüber stets als „spitze“ und „phänomenal“ bezeichnet. „Ein Kind, wie wir es uns alle wünschen, Frau B. hatte es“, faßte der Gutachter die Beschreibungen der Angeklagten über ihre Tochter zusammen. Es sei jedoch eine psychologische „Alltagsweisheit“, so Rödszus, daß sich hinter diesem „Übermaß“ an vermeintlicher Liebe, stets eine „negative Einstellung“ verberge. „Das Gegenteil blendet“, sagte der Psychiater. In Wahrheit sei die Beziehung zwischen Mutter und Tochter von Konkurrenz und Neidgefühlen beeinflußt worden. Das belegten auch die Schilderungen des Vaters. Der geschiedene Mann der Angeklagten hatte vor Gericht von einem Einkaufsbummel der Familie berichtet. Der Ausflug sei als „Tag für die Tochter“ geplant gewesen, so der Vater. Die Mutter habe sich jedoch immer wieder in den Vordergrund gespielt. Obwohl sich die Tochter einkleiden sollte, habe die Mutter sich zuerst einen Mantel gekauft. Anschließend wollte sie ein Handy kaufen und sei „sauer“ gewesen, weil sie ihren Personalausweis vergessen hatte und den Vertrag nicht unterschreiben konnte.

Die Tochter sei für die Angeklagte der „glänzende Mensch“ gewesen, den sie gern selbst verkörpert hätte. Ohne ihre Tochter hätte die Angeklagte nicht leben können. An die „Stelle“, die ihre Tochter „im Seelenhaushalt“ der Angeklagten besetzt habe, wäre sonst „gähnende Leere“ getreten.

Ihr Leben lang habe die Angeklagte „Träume der Wirklichkeit vorgezogen“. Auch in geschäftlicher Hinsicht sei die studierte Ökonomin „blauäugig“ gewesen. Deshalb habe sie auch den Ernst ihrer finanziellen Lage zu spät erkannt. Als die Bank die Kreditlinie nicht verlängerte, sei sie in „Panik“ und „Angst“ verfallen. Zu Beginn seiner Ausführungen wies Rödszus ausdrücklich darauf hin, daß es nicht die Aufgabe von Gutachtern sei, „Entschuldigungen für die Tat“ zu finden. kes