Leuchtende Gesichter im Orchester

■ Jos van Immerseel erkundet in der Glocke Beethovens allerschroffste Seiten

„Ich fürchte, daß die Art, Beethoven zu dirigieren, ohne Verständnis der neuen Musik und der Konflikte und Probleme unserer eigenen Zeit eben doch nur eine Art Konsumvollzug ist“, sagte der Dirigent Michael Gielen und war gleichzeitig voller Skepsis, ob die in der bürgerlichen Rezeption des 19. Jahrhunderts entwickelte Pathos-Patina von Beethovens Werk überhaupt noch abzukriegen ist.

Ironie und Eskapade der Geschichte, daß ausgerechnet aus den Reihen der historischen Aufführungspraxis eine Entrümpelung sondergleichen stattfand, eine allerdings, die einen wesentlichen Impuls durch die Forschungen des Geigers Rudolf Kolisch bekam, der mit einem 1943 erschienenen Aufsatz „Tempo and Character in Beethoven's Music“ eine völlig neue Interpretationsgeschichte anstieß. „Wie waren die Tempi?“, soll Beethoven nach Aufführungen gefragt haben.

Jos van Immerseel, mit seinem Orchester „Anima Eterna“ im Vergleich zu den Stars Nicolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner, Roger Norrington noch immer ein Geheimtip, zeigte mit seinem Beethoven-Programm anläßlich des Musikfestes in der Glocke auf geradezu beglückende Weise, was das Verrückte, das Neue, das Unerhörte am Komponieren Beethovens ist. Die erste Sinfonie, die mit ihren dissonanten Eröffnungsakkorden signalartig jeder Konvention ins Gesicht schlägt, dann mit der rhythmischen Prägnanz des Menuetts alle Lieblichkeit hinter sich läßt und im Andante sogar das Geräuschhafte (in Form nämlich eines pianissimo-Paukenwirbels) in die Musik eingemeindet: Hier kündigt sich schon die einsame Größe des sinfonischen Komponierens Beethovens an, an dem Schubert und Brahms verzweifelt sind und dem Bruckner noch nachfolgen wollte. Tänzerisch und transparent wird bei Immerseel – ohne Frage auch technisch perfekt in einem wunderbaren Gleichgewicht zwischen Bläsern und Streichern – frappierend deutlich, wie Beethoven die Konvention regelrecht zerschießt.

Das vierte Klavierkonzert in D-Dur wird normalerweise das „Lyrische“ genannt. So wie der Solist Immerseel am Hammerflügel saß, muß man sich die Aufführungen Mozarts und Beethovens wohl vorstellen. Daß Immerseel mit keiner Miene vom Klavier aus zu dirigieren versuchte, deutet auf eine Vorbereitung hin, die viel mehr umfaßt als nur präzises Zusammensein. Hier kamen gemeinsamer großer sinfonischer Atem ebenso zur Geltung wie quirlig-bizarres Bläsergewusel, das richtig witzig mit sprachlicher Gestik gefüllt war. Immerseel lag jedes Virtuosengeprotze fern, ungemein feingliedrig war das Klavier ein Instrument im Orchester, von Immerseel mit höchster Empfindsamkeit behandelt.

Im letzten Satz der fünften Sinfonie gab es im Orchester leuchtende Gesichter: Es muß das reinste Glück sein, in diesem einzigartigen Finaljubel drinzusitzen und auch noch an seiner Gestaltung beteiligt zu sein. Hart meißelt Immerseel das Konfliktpotential dieser melodielosen Musik heraus, und man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als sei im Finale mit der längsten Schlußkadenz der Musikgeschichte eine – angemessene – Portion Ironie im Spiel, vielleicht von Beethoven selbst, vielleicht aber auch nur von Immerseel hineingelegt. Ein ganz großer Abend!

Ute Schalz-Laurenze