Argentinien hofft auf Brasilien

Brasilien droht in die globale Finanzkrise hineingezogen zu werden. Weil das Nachbarland Argentiniens größter Handelspartner ist, bringt dies die noch stabile argentinische Wirtschaft in Gefahr  ■ Aus Buenos Aires Ingo Malcher

Von Tag zu Tag fährt der Aktienindex an der argentinischen Börse Achterbahn. An einem Tag werden Rekordverluste vermeldet, wegen derer sich schon ein Broker erschossen hat. Tags darauf können die Nachmittagszeitungen dann wieder einen Anstieg des Aktienindex von bis zu 12 Prozent auf die Titelseite nehmen.

Trotz aller Turbulenzen und Krisen ist jedoch eine Kapitalflucht aus Argentinien noch nicht feststellbar. Sicherheitshalber wurde aber der Staatshaushalt für das kommende Jahr um eine Milliarde Dollar gekürzt. Derzeit verhandelt die Regierung mit internationalen Kreditgebern über ein Kreditpaket von über 8 Milliarden Dollar, mit dem die Staatsfinanzen im Falle einer schweren Rezession im kommenden Jahr gerettet werden sollen.

Argentiniens Unternehmer blicken jetzt nervös in Richtung Brasilien, weil das Nachbarland der wichtigste Handelspartner ist. Sie fürchten einen wirtschaftlichen Einbruch, wenn Brasilien mit der derzeitigen Finanzkrise nicht klarkommt. Dabei hatten sie zu Jahresbeginn noch allen Anlaß zu Optimismus. Die Landwirte in der argentinischen Pampa hatten einiges zu feiern. Aus dem fruchtbaren Grünstreifen um die Hauptstadt Buenos Aires wurde eine Rekordernte vermeldet: 15 Millionen Tonnen Weizen wurden abgemäht, 8 bis 10 Millionen Tonnen sind normal. Doch die Ernüchterung folgte bald. Zwar wurde mehr Weizen exportiert, aber da der Weltmarktpreis wegen der Asienkrise und weltweit guter Ernte tief gefallen ist, kam weniger Geld in die Kassen. Wurden in den vergangenen Jahren um 230 Dollar pro Tonne bezahlt, so bringt in diesem Jahr die Tonne Weizen gerade einmal 100 Dollar ein.

Und noch etwas bereitet den Pampa-Landwirten Kopfschmerzen: Wenn auch erst in geringen Mengen, importierte das Land der großen Steaks doch in diesem Jahr erstmals Rindfleisch aus Australien und Neuseeland. Zwar beteuern alle, daß das tiefgefrorene eingeflogene Steak um Längen nicht an das argentinische „Bife“ herankommt, aber dank der ungehemmten Weltmarktöffnung Argentiniens kann hier jeder, der billig genug anbieten kann, einen Absatzmarkt finden. Der Rindfleischimport trifft einen Nerv der Argentinier. Denn beim Export, etwa in die EU, unterliegt das argentinische Fleisch strengen Quoten.

Deswegen ist Argentinien dringend auf südamerikanische Absatzmärkte angewiesen. Doch gerade der Hauptpartner Brasilien ist wirtschaftlich angeschlagen. Dorthin fließen gut ein Drittel aller argentinischen Exporte. Gerade für die Automobilproduktion wären keine anderen Absatzmärkte denkbar. In den argentinischen Fabriken von Ford und Fiat wurden die Bänder wegen der unsicheren Lage in Brasilien schon verlangsamt. Auch die Textilindustrie fürchtet in Brasilien keine Kunden mehr zu finden. Wenn die brasilianische Währung Real tatsächlich abgewertet wird, würden die argentinischen Produkte in Brasilien unerschwinglich.

Derzeit gibt Brasilien den Argentiniern wenig Anlaß zu Optimismus. So haben die Aktien an der Börse von São Paulo bereits mehr als die Hälfte ihres Werts verloren, und aus Brasilien wurden bereits 23 Milliarden Dollar an Divisenreserven abgezogen. Die Spekulanten, heißt es, wollen an Brasilien testen, wie weit sie gehen können. 51 Milliarden Dollar an Reserven befinden sich noch in der brasilianischen Staatskasse.

An zwei Hoffnungen können die Brasilianer sich noch halten: Erstens haben IWF und Weltbank zu Beginn dieser Woche Hilfe zugesagt, damit Brasilien fällige Schulden abzahlen kann. Sogleich erholten sich die Aktienkurse ein wenig. Und zweitens: Kurz vor den anstehenden Wahlen wird Präsident Fernando Henrique Cardoso wohl kaum die Landeswährung abwerten. In Brasilien gilt, daß mit der Stabilität der Landeswährung Wahlen gewonnen werden.

Dank seines erfolgreichen Real- Planes, mit dem er die Landeswährung an den US-Dollar knüpfte, hatte es Cardoso vor vier Jahren als Wirtschaftsminister geschafft, die Inflation zu beseitigen. Zum Dank wurde er zum Präsidenten gewählt. Doch obwohl der brasilianische Real jedes Jahr kontrolliert und nach vorheriger Ankündigung um etwa 7 Prozent gegenüber dem Dollar abgewertet wird, gilt er den Analysten derzeit als überbewertet. Und so sind stärkere Spekulationsattacken in den nächsten Wochen durchaus denkbar.

In Brasilien werden gut ein Drittel aller Güter und Dienstleistungen Lateinamerikas produziert. US-Finanzminister Robert Rubin bezeichnete das Land als für die US-Interessen äußerst wichtig. „Das Land ist der zweitgrößte Markt für Jeans und der drittgrößte Markt für Fernseher“, mahnt die Südamerika-Ausgabe des Wall Street Journal. Daher kommentiert auch Eduardo Cabrera, Stratege der Investmentbank Merrill Lynch: „Was in den kommenden drei Monaten in Brasilien geschieht, wird bestimmend sein für Lateinamerika.“

Genau davor hat Argentinien Angst. Dennoch halten die meisten Analysten eine Abwertung des argentinischen Peso für nicht wahrscheinlich. „Das argentinische Finanzsystem hat seine Probe bestanden“, lobt Lawrence Goodman, Chefökonom bei Santander Investment in New York. Immerhin deckt der Staat das Bargeld und Guthaben auf Giro- und Festgeldkonten zu 67 Prozent mit Gold- und Devisenreserven.

Auch im Wirtschaftsministerium in Buenos Aires gibt man sich optimistisch. Wirtschaftsminister Roque Fernandez rechnete vor, daß das Haushaltsdefizit im kommenden Jahr knapp 3,6 Milliarden Dollar ausmachen würde, was nur einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes entspräche. Und beim Wirtschaftswachstum hofft der „Chicago Boy“ Fernandez auf 4,8 Prozent im kommenden Jahr.