Der Kanzler der Spaltung

Helmut Kohl. Er läßt sich als Kanzler der Einheit feiern. Tatsächlich aber steht er für das Gegenteil – für die dreifache Spaltung der bundesdeutschen Gesellschaft. In Arbeitsplatzinhaber und Arbeitslose, in deutsche Staatsbürger und nur schlecht geduldete Ausländer, in Ost- und Westdeutsche. Sechzehn Jahre innenpolitischer Verfall, sechzehn Jahre der immergleiche Regierungschef. Das soll Demokratie sein? Die Wahl am 27. September könnte die festen Strukturen der deutschen Politik aufbrechen – wenn er Wähler auf das Sicherheitsnetz „Große Koalition“ verzichten will. Zeit für eine Bilanz  ■ Von Christian Semler

Diesmal wird alles anders, bestimmt! Als Helmut Kohl 1996 Konrad Adenauers Regierungsrekord einstellte, schlug ihm teils überschwengliche, teils widerwillige Bewunderung entgegen. Er strahlte im Goldrahmen der „Ära Kohl“. Heute aber herrscht Überdruß, wohin wir auch blicken. Ein allgegenwärtiges Gefühl, das aus jeder Pore des deutschen Gemüts dringt. Mit jeder Rede, in der der Bundeskanzler auf seine Verdienste pocht und angesichts der unsicheren Weltlage seine Unentbehrlichkeit beschwört, verstärkt er nur den Chor derer, die antworten: Vielen Dank für alles, geh mit Gott, aber geh!

Etwas ist zerbrochen. Immer galt Kohl als Ausdruck der deutschen Sehnsucht nach einem geordneten Haus, nach Harmonie, nach sicheren, stabilen Lebenserwartungen. Wie kein Politiker hat er dieses private Glücksbedürfnis ins Politische übertragen, genauer: an die Stelle der Politik gesetzt. Er war kein Prophet, der sein Volk durch die Wüste führt, nicht mal ein Hirte, nur Gärtner – wie Millionen Deutsche. Die „blühenden Landschaften“, mit denen er die Ostdeutschen beschenken wollte, entstammen seiner Seelenlandschaft. Distanz wahrte er stets zu den Programmatikern, die die Essenz von Politik darin sahen, das C im Namen der Partei mit einem unverwechselbaren Inhalt zu füllen. Aber eins sein wollte er mit dem Volk, wie er es sich träumte: unzersplittert, naturhaft geeint, eine riesige Großfamilie.

Die schönen Tage des Jahres 1990, als diese unio mystica sich auf den Marktplätzen der DDR zutrug, sie währten nicht lange. Nur daß der kollektiven Feier nicht Ernüchterung, sondern maßlose Enttäuschung folgte. Die Sterbestunde der DDR wurde zur Geburtsstunde der DDR-Nostalgie. Zwar wäre jeder Staatsmann gescheitert an der Hoffnung der DDR-BewohnerInnen, binnen kurzer Frist den Lebensstandard der vom Schicksal so lange begünstigten Westdeutschen zu erreichen. Aber Kohl hat es geschafft, daß aus der notwendigen Ent-Täuschung ein abgrundtiefes gegenseitiges Ressentiment entstand. Ein Gegensatz, der mehr mit dem Verhältnis der Süd- zu den Nordstaatlern nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zu tun hat, als mit den bayrisch-preußischen Animositäten nach der Reichsgründung, die heute gern zum Vergleich herangezogen werden. Kohls Projekt der inneren Einigung reduzierte sich auf Anschubfinanzierung plus Appell an deutsche Tugenden plus Mimesis, will sagen, Angleichung an die westdeutschen Verhältnisse. Der Kern seiner Politik war der gleiche wie in der alten Bundesrepublik: Weiter so!

Weiter so! geht es auch nicht mit dem Prozeß der europäischen Einigung, nach der deutschen Einheit der zweite Tempel des Hohepriesters Kohl. Nicht sein Kampf um den Euro hat ihn in die Sackgasse geführt, der war notwendig und sogar tapfer ausgefochten. Sondern die absolute Perspektiv- und Ideenlosigkeit, mit der er auf die Frage reagierte, wie die Staatsvölker der EU eigentlich zu einer Gemeinschaftlichkeit finden sollen, die die zukünftig notwendige „europäische Innenpolitik“ erst möglich macht. Weiter so! heißt heute, dem Primat der Ökonomie zu folgen und darauf zu vertrauen, daß die Politik schon nachziehen wird. So war es tatsächlich vom Abschluß der Römischen Verträge bis zu den Maastrichtabkommen. Jetzt aber ist diese Kontinuität an ihre Grenzen gestoßen. Und Kohl antwortet mit dem Subsidiaritätsprinzip: Jede Ebene soll das tun, wozu sie am Besten taugt. Das heißt: Er schließt vor dem Problem die Augen.

Das System Kohl ist stets ohne großdimensionierte Ziele, erst recht ohne „Vision“ ausgekommen. Seit seinem Machtantritt verdankte der Kanzler sein Überleben dem Versprechen, den westdeutschen Stabilitätskern – die Kompromißarchitektur des Sozialstaats – nicht anzutasten. Er verschob die Gleichgewichte undramatisch, Schrittchen für Schrittchen nach rechts, weg vom Sozialvertrag der Nachkriegsgeschichte. Diese schleichende Erosion unter gleichzeitiger Behauptung der Kontinuität war angesichts der endemischen Massenarbeitslosigkeit nicht mehr durchhaltbar. Die Balancestange taugte nicht mehr als Instrument, das Hackebeil mußte her. Aber die politische Offensive, die Kohl unter der Fahne der Reform nach 1994 startete, ist voll auf ihn zurückgeschlagen. Allen semantischen Künsten zum Trotz gelingt es nicht, den Bürgern zu erklären, warum eine Regierung nach sechzehnjähriger Amtszeit sich plötzlich zur Reformkraft wandelt, die ihnen im Namen künftiger Stabilität massive Opfer zumutet. Und wie das aussehen soll: das Neue mit den alten Leuten.

Anders als Westerwelle hat Kohl Probleme, Großangriffe auf den Sozialstaat als Gewinn für alle Bürger darzustellen. Im Haushalt seiner Grundüberzeugungen (es sind nicht viele) gehen der ökonomisch bestimmte Liberalismus und ein Paternalismus katholischer Herkunft eine seltsame Melange ein. So hält Kohl eisern am liberalen Credo fest, daß man die Unternehmer nur hinreichend steuerlich entlasten, den Kündigungsschutz einschränken, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall mindern müsse, damit sie massenhaft Arbeitslose einstellen. Gleichzeitig glaubt er, daß – wie im Fall der Jugendarbeitslosigkeit – väterliche Ermahnungen aus christlichem Geist den Unternehmern und Handwerksmeistern auf die Sprünge helfen werden. Und er zeigte sich persönlich als Familienoberhaupt gekränkt und enttäuscht, als viele westliche Unternehmen, statt ihren östlichen Kollegen selbstlos unter die Arme zu greifen, einzig den eigenen Profit im Auge behielten. Vertrauen in die „unsichtbare Hand“ der Ökonomie oder Appell an den Gemeinsinn der Unternehmer? Widersprüche wie dieser koexistieren friedlich in Kohls Kopf. Sie lösen sich auf in dem, was von Fall zu Fall – das heißt aber innerhalb der konkreten Parteienkonstellation – machbar ist.

Kein Zweifel, Kohl ist nicht nur dem Taufschein nach Katholik. Aber mehr als abgeflachte Einsichten über unser aller Fehlbarkeit, mehr als Skepsis angesichts hochfliegender Projekte zur Menschheitsverbesserung sind bei ihm nicht auszumachen. Oft hat der Kanzler Johannes XXIII. als Vorbild christlicher Demut zitiert. Gleich dem großen Papst prüfe auch er sich (bei der morgendlichen Rasur) im Spiegel, ob er nicht abgehoben habe von der Existenz der normalen Erdenbürger. Über das Ergebnis dieser Selbstprüfung bestanden allerdings nie Zweifel. Aber die franziskanische Grundhaltung des Roncalli-Papstes, seine Hinwendung zu den Ärmsten, ist Kohl ganz fremd.

Obwohl der Welt des alten katholischen „Zentrums“ entstammend, hat er die inneren Vorbehalte der Christlichsozialen aus der Zeit vor 1933 gegenüber der kapitalistischen Produktionsweise nie nachvollzogen. Erst recht ist ihm jene Äquidistanz zu Kapitalismus und Realsozialismus fremd, die das Denken des gegenwärtigen Papstes charakterisiert. In deren Zentrum steht bekanntlich das Postulat von der Würde der menschlichen Arbeit. Seiner Abgrenzung vom Neoliberalismus fehlt deshalb – ganz anders als bei dem verstoßenen Heiner Geißler – jedes Gefühl des Ungenügens an den bestehenden Einkommens-, Vermögens- und Beschäftigungsverhältnissen. Weshalb auch Geißlers „neue soziale Frage“ bei ihm auf dürren Boden fiel. Wenn er Margaret Thatcher kritisiert (kürzlich mit einer wegwerfenden Bemerkung im Zeit-Interview), so im Namen des Bedürfnisses nach Harmonie. Was ihn an der eisernen Lady stört, ist deren Antiestablishmenthaltung, ihr reaktionär umstürzlerischer Elan.

Kohls Haltung zu politischen Entscheidungsprozessen ist strikt ergebnisorientiert. „Es kommt drauf an, was hinten herauskommt“, ist die Lieblingsmaxime seiner Regierungsarbeit. Gegen Effizienz wäre wenig zu sagen, wenn sie der Durchsetzung klar definierter Ziele diente. Vor deren Bestimmung aber scheut Kohl wenn irgend möglich zurück. Der so verstandenen Effizienz ordnet der Kanzler die Regierungsinstrumente der Verfassung unter. An die Stelle von Kabinettsbeschlüssen und Ministerverantwortlichkeit traten im Lauf der Jahre Koalitionsabsprachen und Vorklärungen in der Runde der Getreuen. Dieses System persönlicher Macht korrespondiert einer gleichgeschalteten Regierungspartei. Aus dem bunten Konglomerat von Wirtschaftsliberalen und Sozialkatholiken, protestantisch-zentralistischen Nordlichtern und süddeutschen Partikularisten, das die CDU einmal war, ist eine Einheitspartei geworden, der Kohl jedes eigenständige Denken ausgetrieben hat. Kohls Kenntnis der Parteipersonalien ist wahrscheinlich nur von Herbert Wehners phänomenalem Kadergedächtnis übertroffen worden. Die Gehorsamen belohnt er, Widerspruch, erst recht unziemlicher Ehrgeiz, wird mit Gunstentzug bezahlt. Helmut Schmidt griff nach der Akte, Helmut Kohl greift nach dem Telefon. „Mein Gott, der Mann kann telefonieren“, mußte selbst Kurt Biedenkopf zugeben, auch ein Verstoßener, auch einer von diesen... Intellektuellen.

Es war Biedenkopf, der in den achtziger Jahren mit einem Reformprojekt unterwegs war, das die CDU-Programmatik dem damals schon spürbaren Problemdruck anpassen sollte: der Krise des Steuerstaates, den steigenden Staatsausgaben bei verringerten Steuereinnahmen; dem voraussehbaren Scheitern jeder Beschäftigungspolitik, die sich allein am Standard der Erwerbsarbeit orientiert; der ungünstigen demographischen Entwicklung, die zu einer Neubestimmung des Systems der Sozialversicherungen zwingt; und ein halbes Dutzend weiterer „Herausforderungen“. Der Reformstau als Beschreibung der Wirklichkeit gehört der ersten Hälfte der achtziger Jahre an und nicht der zweiten Hälfte der neunziger. Und die Bremser, die Blockadeure, sie saßen nicht im sozialdemokratischen Erich- Ollenhauer-Haus, sondern im Bundeskanzleramt. Eine Zeitlang überdeckten die mit der deutschen Vereinigung entstandenen dringlichen Probleme die mitgeschleppten Altlasten. Jetzt potenzieren sich beide.

Die Bilanz der Ära Kohl schreibt sich nicht einfach von 1994 aus fort. Was sich damals teils abzeichnete, teils schon in vollem Gang war, ist jetzt vollendet: die Spaltung der deutschen Gesellschaft. Spaltung der dauerhaft aus dem Produktionsprozeß Ausgegrenzten von der Mehrheitsklasse der Beschäftigten; Spaltung zwischen den deutschen Paßträgern und denen, die sich mit minderer Pappe begnügen müssen, und schließlich: der Graben zwischen Ost- und Westdeutschen.

Jede Schlußbilanz des Unternehmens Kohl trägt, wir wissen es, ein böses Omen. Der Kanzler wird nach ihrer Vorlage munter weitermachen. Seit 1987 haben wir ihm unser höhnisches „Danke Helmut“ nachgerufen. 1994 brachte viele kluge Leute, etwa Jürgen Habermas, der Gedanke um den Schlaf, was auf Kohl an deutschnationaler Dumpfheit folgen würde. Aber Kohl folgte auf sich selbst.

Mit dem toten Erich Honecker teilt der weiterlebende Kohl die Vorliebe für Volksweisheiten. Und einer ihrer gemeinsamen Lieblingssprüche lautet: „Totgesagte leben länger.“ Auch jetzt gilt Vorsicht beim Gebrauch des Imperfekts, wenn vom Kanzler die Rede sein soll. Vorsichtig formuliert: Es wird der längste Abschied der deutschen Geschichte gewesen sein. Begnügen wir uns hier mit einem dreiteiligen, gerafften Fazit der Katastrophe.

Ob irgendeine deutsche Regierung die Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik hätte verteidigen oder wiederherstellen können, ist mehr als zweifelhaft. In Deutschland wie in den anderen europäischen Ländern lastet die Arbeitslosigkeit vor allem auf den nicht beziehungsweise gering qualifizierten ArbeiterInnen. Auch in Zeiten der Konjunktur haben sie als Arbeitssuchende gegenüber den Forderungen der JobinhaberInnen schlechte Karten. In einer Gesellschaft wie der deutschen, die die persönliche Anerkennung so sehr an einen festen Job bindet, ist längere Arbeitslosigkeit nahezu identisch mit gesellschaftlicher Ausgrenzung, mit dem Verlust von Selbstwertgefühl und Würde.

Kennzeichen der Regierung Kohl war und ist es, diese Ausgrenzungs- und Segregationsprozesse noch zu verstärken. Sie beförderte den sowieso schon allgegenwärtigen Verdacht, die unterste Schicht der Gesellschaft, die SozialhilfeempfängerInnen, würde sich mißbräuchlich die Früchte der Arbeit anderer aneignen. Indem Kohl jeden Gedanken einer Negativsteuer in Form eines garantierten Mindesteinkommens von sich weist, erniedrigt er die Armen zu Bittstellern der überforderten kommunalen Sozialbehörden. Auch die ABM-Stellen und Lohnbeihilfen aus dem Füllhorn der Vorwahlkampfzeit haben für die Bedachten keine integrative Bedeutung. Mit der Gewißheit, nach Ablauf der Frist wieder im Arbeitslosenghetto zu landen, verstärkt sich nur das Gefühl der Demütigung. Indem Kohl seinen Gigantenkampf mit dem Fetisch „Vier Millionen Arbeitslose“ ausficht, verdeckt er die wirkliche Gesamtzahl ebenso wie das eigentlich entscheidende Faktum: die Segmentierung und die extreme Unterschiedlichkeit der Arbeitslosenzahlen in den verschiedenen Regionen und sozialen Milieus. Gerade wo ein diesen Bedingungen angepaßtes politisches Konzept vonnöten wäre, verweigert der Macher Politik. Reglos sitzt er im Kanzlersessel, den Blick starr auf die Nürnberger Arbeitslosenstatistik gerichtet.

Sicher trägt, um zum zweiten Teil des Katastrophenfazits zu kommen, Kohl nicht die Verantwortung für den Ethnozentrismus vieler Deutscher, für ihre Angst vor dem Fremden, für die hochgelegte Latte der Anpassungsleistungen, die jeder Ausländer überspringen muß, wenn er hier akzeptiert werden will. Dennoch hat seine Politik den massiven Formen der Ausländerfeindlickeit in den neunziger Jahren einschließlich des Terrors den Weg geebnet, meinetwegen unfreiwillig. Kann der Bundeskanzler vergessen machen, daß er die Wendewahlen des Jahres 1983 auch mit dem Versprechen gewonnen hat, „sowohl die Zahl der Arbeitslosen als auch die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer erheblich (zu) reduzieren“? Verräterisches Wörtchen „und“! Auch widersprach Kohl nicht seinem Innenminister Zimmermann, als dieser nach gewonnener Wahl verlautete: „Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird.“ Lag es bei dieser Einschätzung für einen aufrechten Deutschen nicht nahe, die Langfristigkeit etwas kürzer zu gestalten?

Ähnlich einladenden Charakter zur rechtsradikalen Militanz trug auch die Regierungskampagne zur Abschaffung der Asylgarantie im Grundgesetz. Wer weiß, wie sehr die Neonazis sich als Vollstrecker eines angeblichen Mehrheitswillens fühlen, kann leicht nachvollziehen, welche Wirkung die offiziell sanktionierte Rede von den „Scheinasylanten“ und den „Wirtschaftsflüchtlingen“ hatte, die Deutschland „überfluteten“. So donnernd der rechte Terrorismus von Kohl auch verurteilt wurde, nie hat er sich zu einer Geste der Solidarität mit den Opfern, und sei es nur anläßlich eines Begräbnisses, verleiten lassen. Und nie hat er den Gaffern und Beifallklatschern ins Gewissen geredet. Der Tugendprediger, hier blieb er stumm. Wahrscheinlich weil Zivilcourage nicht zu den deutschen Kardinaltugenden gehört.

Dazu kommt Kohls Haltung zur Reform des Staatsbürgerrechts. Als Citoyen gilt ihm nicht, wer sich als Bürger der Republik sieht und sich ihre demokratischen Ideale zu eigen macht. Kohls Staatsbürger gehört kraft Abstammung dazu. Dabei ist der Kanzler kein Nachfahr der deutschen Romantik und ihres ausgrenzenden Volksbegriffs. Er liebt nur die übersichtlichen Verhältnisse der deutschen Großfamilie. In ihr hat Vatern das letzte Wort. Adoptionen sind nicht vorgesehen.

Kohl inspiziert oft und gern seinen zukünftigen Platz in der Geschichte. Aber daß im republikanischen Pantheon nur Einlaß erhält, wer neue demokratische Institutionen begründet oder alte gefestigt hat, ist ihm entgangen. Entgegen dem Eindruck, den sein später Flirt mit Bärbel Bohley erweckt, hatte Helmut Kohl mit den demokratischen Revolutionären in der DDR 1989/90 nicht das Geringste am Hut. Ihm lag die Vorstellung fern, daß diese Revolution sich in dauerhaften Institutionen niederschlagen könnte. Und gänzlich abstrus wäre ihm der Gedanke erschienen, jetzt, angesichts der nahen Vereinigung mit der demokratisch gewordenen DDR, das politische und soziale System der Bundesrepublik auf den Prüfstand zu stellen. Mochten hochgestimmte Geister in beiden deutschen Staaten auch mit der Philosophin Hannah Arendt die constitutio libertatis (“Grundlegung der Freiheit“) beschwören, mochte die Volkskammer der DDR in ihren letzten Zügen auch ein weit in die Zukunft greifendes Verfassungsprojekt beschließen – Kohl ist es stets darum gegangen, das Parteiensystem der Bundesrepublik, damit aber auch das System seiner persönlichen Macht, auf den neuen Osten zu erstrecken.

Gegenüber dieser Sicht der Dinge ist oft eingewandt worden, genau dies und nichts anderes hätten die Bewohner der DDR von Kohl verlangt. Das stimmt hinsichtlich des raschen Beitritts, vielleicht sogar hinsichtlich der ökonomischen Belastungen, die er nach sich zog. Aber keine Anstrengung der politischen Phantasie hätte 1990 einen DDR- Bürger befähigt, vorauszusehen, in welchem Umfang seine Qualifikation, seine Lebensleistung entwertet wurden, bis zu welchem extremen Grad alle Einrichtungen des untergegangenen Staates, selbst wenn sie eng mit der Lebenswelt der Einwohner verknüpft waren, dem Beitritt zum Opfer fielen. Im Westen wird heute beklagt, daß die Ostdeutschen, befragt, was höher zu bewerten sei, Freiheit oder soziale Gerechtigkeit, letzterer den Vorzug gäben. Aber existierte im Osten Deutschlands nach der Vereinigung ein durch die demokratische Revolution legitimierter politischer Ort, wo sich die neuen Bürger über das Woher und Wohin verständigen konnten, wo der demokratische Impuls von 1989 hätte weiterwirken können, eine Art Fortsetzung des „Neuen Forums“? Gab es gesellschaftliche Räume, wo nicht das Vorgekaute übernommen wurde, sondern Zeit und Geduld da war für Experimente? Man antworte nicht, der Untergang aller Foren der Selbstverständigung sei unvermeidbar gewesen. Sie waren nicht erwünscht. Erwünscht war das Parteiensystem und die kapitalistisch reorganisierten Massenmedien.

Dieser Würgegriff, diese Abtötung des Wertvollsten, was die Deutschen in Generationen zustande gebracht haben, eben der demokratischen Revolution, hat sich noch verheerender ausgewirkt als die flächendeckende Entindustrialisierung samt ihrer Folgen. Kohls Politik der Einheit hat bei den Menschen im Osten drei gleichermaßen fatale Reaktionsformen provoziert: alerte Überanpassung an die Ellbogengesellschaft; eine resignierte, späte Verklärung der realsozialistischen Verhältnisse – oder Wut, die sich im Braunhemd kostümiert. Diese Einstellungen werden fortdauern, wenn neue, bodenständige Eliten im Osten die Westimporte abgelöst oder aufgesogen haben werden. Sie sind die schwersten der Hypotheken, die Kohl hinterläßt.

Welche Konsequenzen für die Wahl zum Bundestag ergeben sich aus diesem unerfreulichen Stand der Dinge? So allgegenwärtig der Überdruß an Kohl ist, so gering sind die Hoffnungen, die sich an seinen Herausforderer Schröder knüpfen. Sind die Wähler nicht aus dem gleichen Teig gebacken wie unser Bundeskanzler? Halten sie nicht am brüchig gewordenen System Kohl minus Kohl fest? Die konstante Mehrheitsoption für die Große Koalition bei Wahlumfragen ist hierfür ein starkes Indiz. Eine solche Option entspräche auch einer fünfzigjährigen Wahlpraxis. Wenn es in Deutschland einen Wechsel gegeben hat, dann nur mit Sicherheitsnetz. Also die Maxime des Fürsten im „Leopard“ Lampedusas: „Alles muß sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist“?

Nicht ganz. Vom Aufbruch des Jahres 1969, von der gesellschaftlichen Schubkraft, die das sozialliberale Reformprojekt antrieb, ist zwar heute nicht der matteste Luftzug zu spüren. Aber Vorsicht! Unter dem großen Schirm des Überdrusses bewegen sich subversive Figuren, Ideen, die lange frustriert wurden, Gefühle, die sich vor der schlechten Realität verbergen. Auch den Sloganproduzenten der SPD ist aufgefallen, daß durch unseren öffentlichen wie privaten Gedankenaustausch das Bild einer gerechteren Gesellschaft geistert. Solche Ideen, heterogen wie sie sind, sträuben sich einer Übersetzung in die politische Sphäre. Ohne Einfallstor in die Politik werden sie sich nicht hervorwagen, erst recht nicht bündeln und artikulieren. Dieses Einfallstor wird bei der Großen Koalition geschlossen bleiben, bei der rot- grünen Koalition sich vielleicht einen Spalt öffnen. Deshalb muß dem Überdruß an Kohl die klare Wahloption folgen. Die heißt: beidhändig für die Grünen!

Christian Semler, 59 Jahre, arbeitet seit Herbst 1989 als politischer Redakteur und Autor für die taz.