Tristes Relikt des atomaren Horrors

Säle wie Tiefgaragen, eng und voller modrig-dicker Luft: Das Hamburger Notlazarett für 1000 Menschen im Keller eines Wedeler Gymnasiums besuchten  ■ Elke Spanner (Text) und Henning Scholz (Fotos)

Von der Sterilität moderner Krankenhäuser ist keine Spur in dem steinernen Keller. Langsam nutzt sich der Farbbelag vom Fußboden ab. Der OP-Tisch in „Raum 3“ ist provisorisch mit einer Plastikplane vor Staub geschützt, für die Narkose reihen sich uralte Lachgas-Patronen an der Wand entlang. In einer Ecke stapeln sich dunkelgrüne Metallkisten übereinander. Sie wirken wie abgestellt und beinhalten doch das, was den tristen Bunker im Notfall binnen 24 Stunden in ein Krankenhaus verwandeln sollte: Skalpelle, Darmfaßzangen, Bauchdeckenhalter.

Hinter dem OP-Raum liegen die Schlafsäle für die Kranken. Erst die für frisch Operierte, dahinter die für leichter Verletzte. Ein Saal, zwei, drei, vier, dahinter liegt noch einer. Für rund 1000 Menschen ist hier Platz; aneinandergereiht die Schwerkranken, in Stockbetten übereinander die, die ihr Bett besser verlassen können. Jetzt stehen die Liegen verwaist in den Sälen, die wie Tiefgaragen aussehen. Doch die Vorratsräume sind voll, in Plastik verschweißt warten seit Jahrzehnten Bettdecken darauf, ausgerollt zu werden. Der „Kalte Krieg“ ist längst vorbei. Die letzte Materiallieferung bekam das Wedeler Hilfskrankenhaus 1993.

60 Zentimeter dicke Stahlbetonwände sollten im Katastrophenfall, bei Chemieunfällen oder atomarer Verseuchung das unterirdische Lazarett von der Außenwelt abschirmen. Es zur Metallkiste machen, in die keine Strahlung eindringt. Die aber auch nicht mehr einfach verlassen kann, wer hier Zuflucht gesucht hat. Bis zu einen Monat lang sollte die schwere Panzertür geschlossen bleiben. Das plante die Stadt Hamburg, als sie Mitte der sechziger Jahre das Notkrankenhaus bauen ließ.

Doch die politische Entspannung zwischen Ost und West im vergangenen Jahrzehnt hat auch die Katastrophenszenarien verändert. Heute glaubt an Atombomben über Hamburg niemand mehr, und über einen GAU in einem der vier nahegelegenen Atommeiler „sagen unsere Techniker, daß da nichts passieren kann“, so Axel Spaeth vom Katastrophenschutzamt Kiel. Deshalb hat die Bundesregierung entschieden, das Hilfskrankenhaus aufzulösen und den Bunker als gewöhnlichen Schutzraum zu nutzen.

Schon jetzt wirkt er wie ein Vorratslager. Neben dem Sportplatz des Wedeler Gymnasiums führt eine unauffällige Zufahrt zu der schweren Panzertür, hinter der das Jenseits von Licht und Zeit beginnt. Beklemmend ist das Wissen, eingesperrt zu sein, und es verfolgt einen mit der modrig-dicken Luft durch das Labyrinth von Gängen. Läßt einen nicht eine Sekunde allein. Schlüpft mit in enge, triste Räume, deren Türschilder ihre Funktion als „OP“ oder „Labor“ aufzeigen und die man sonst für ungenutzte Garagen halten würde. Überall ziehen sich dicke Versorgungsrohre an der tiefen Decke entlang. Das monotone Brummen der Maschine, die pausenlos Feuchtigkeit aus der Luft zieht, ist das einzige Geräusch. Grauer Mauerstein rundum, Schilder mit der Aufschrift „Gipsraum“, „Lüftungszentrale“ weisen immer tiefer in die unterirdische Stadt hinein. Nur ein Hinweis auf den Ausgang, der fehlt.

Daß im Keller unter ihrer Schule eine autarke Welt existiert, wissen nur wenige SchülerInnen des Wedeler Johann-Rist-Gymnasiums. Sie leben Ende der neunziger Jahre, in einer Zeit, in der die Schreckensvisionen eines Atombombenkrieges zu den Horror-szenarien vergangener Jahrzehnte gehören. Während des „Kalten Krieges“ galt es hingegen als realistisches Szenario, daß eine Atombome über Hamburg abgeworfen werden könnte. Und mit dem Glauben an diese Bedrohung bestand die Notwendigkeit, Vorkehrungen für den Katastrophenfall zu treffen.

„Die Vorstellung der 60er, wie man einen atomaren Schlag aushalten kann, führt heute nur noch zum Schmunzeln“, findet zwar heute Axel Spaeth vom Katastrophenschutzamt Kiel. Er blickt auf den Vorratsraum, der nicht mehr als bescheidene 30 Quadratmeter groß ist und die Lebensmittel für über 1000 Menschen beherbergen sollte: „Sie haben hier fünf OPs mit bestem Material, und dann gibt es nur zwei Feldküchen für so viele Menschen. Das paßt alles nicht zusammen.“

Beim Bau des Bunkers glaubte die Stadt Hamburg daran, hier Menschen bis zu einem Monat lang ein Leben jenseits der atomaren Verseuchung ermöglichen zu können. Davon, daß die Technik das leistet, ist auch Spaeth überzeugt: Sind die Schleusen dicht, wird der Luftdruck erhöht, 0,8 bar liegt er dann über dem Außendruck. Filteranlagen reinigen die Luft, bereiten sie auf, Kompressoren pusten sie wieder in die unterirdischen Gänge. Die Verbindung zum städtischen Wassernetz wird gekappt, drei riesige dunkelblaue Behälter führen zum eigenen Tiefbrunnen. Auch eine eigene Abwasseranlage befindet sich unter Tage; in Raum 202 ist ein Elektrizitätswerk, das die 5000 Quadratmeter Bunkerfläche mit Strom versorgt. Fällt dieser aus, springen zwei mit Diesel betriebene Notstrom-Aggregate ein.

Die Aufnahme in das Notlazarett führt durch die „ABC-Notentgiftung“ – atomar, biologisch, chemisch. Der kleine Eingangsraum ist vollgestellt mit Krankenliegen und Meßgeräten, alles sorgfältig mit Plastik abgedeckt. Erst sollte man hier zur Vormessung kommen, dann zur Entgiftung unter die Dusche. Hätte die Nachmessung immer noch eine Strahlenbelastung aufgezeigt, hätte sich der Vorgang wiederholt.

Seit April dieses Jahres wird das unterirdische Notlazarett in Wedel von Schleswig-Holstein verwaltet. Da das Land über 1000 Kilometer Deiche an Nord- und Ostseeküste sowie an Flüssen verfügt, richten sich die Katastrophenschützer nun hauptsächlich auf Notfälle durch Hochwasserfluten ein. Die Evakuierung der Bevölkerung könne auch durch Chemieunfälle notwendig werden, oder wenn etwa ein Hochhaus abbrenne, in dem mehrere hundert Menschen leben, sagt Spaeth. Dafür reichen aber reine Belegbetten aus, die im Ernstfall zunächst im oberirdischen Schulgebäude aufgestellt werden sollen. Das Notlazarett wird zum Vorratsraum für die Betten, Kleidung, Handtücher.

„Oben“, sagt Spaeth, „kann man wenigstens aus dem Fenster schauen.“ Daß sie in der unterirdischen Stadt einen „Lagerkoller“ bekommen würden, bemängelten auch mehrere hundert PolizistInnen, die vor Jahren mal in dem Bunker untergebracht waren. Die Nacht wurde ihnen lang in dem atombombensicheren Gebäude – in dem sie wohnen mußten, als sie gegen AtomkraftgegnerInnen im Einsatz waren, die gegen das AKW Brokdorf demonstrierten.