Die Rente ist eben nicht alles

■ Immer mehr ältere Menschen leben in Berlin. Doch auf die Straße trauen sie sich immer seltener. Um so wichtiger sind Treffpunkte, an denen sich die SeniorInnen austauschen können Von Uwe Rada

Von Uwe Rada

Heute kann Irmgard Hähnel darüber sprechen. Wie sie der Räuber mit einem Jiu-Jitsu-Griff auf den Boden geworfen und ihr danach die Handtasche geraubt habe. „Unten im Hausflur war das“, sagt die 77jährige. „Seitdem gehe ich im Dunkeln nicht mehr aus dem Haus.“ Sie sagt es nicht verbittert, aber entschlossen.

Seitdem eine andere Seniorin in der Sparkasse und wiederum eine andere auf dem Friedhof überfallen wurde, ist das Thema Kriminalität im Seniorentreffpunkt „Herbstlaube“ in Prenzlauer Berg Thema. „So etwas spricht sich eben schnell herum“, sagt Gabriele Kroggel (30), die stellvertretende Leiterin des 1990 gegründeten Projekts. „Zwar macht es auch Mut, wenn eine alte Dame erzählt, wie sie sich gegen einen Dieb erfolgreich zur Wehr gesetzt hat. Auf die Straße trauen sich die Senioren aber nur noch tagsüber.“ Am kürzesten werden die Tage für die Besucher der Herbstlaube, wenn es Winter wird. „Wenn sie dann nicht geholt und wieder nach Hause gebracht werden, kommen sie eben nicht“, sagt Kroggel. Zu den Grenzen, die ihnen ihr Alter setzen, kommen diejenigen, die mit der unsichtbaren Gebrauchsanleitung der Stadt zu tun haben.

Vor allem in Prenzlauer Berg. Irmgard Hähnel, die 1995 erstmals eine Wohnung mit Innentoilette, Sammelheizung und Bad bezogen hat, weiß, daß sie eine Ausnahme ist. „Viele Senioren ziehen weg aus dem Bezirk“, beobachtet Helene Breuel. Die 78jährige wohnt seit dem Kriegsende in Prenzlauer Berg. „Nicht, daß ich die Mauer wiederhaben will“, sagt die Diabetikerin, „aber manchmal bekommt man es schon mit der Angst zu tun. Angst vor der Zukunft, Angst vor der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung.“ Und Angst vor weiteren Mieterhöhungen.

„Eine Frau, die seit 64 Jahren in ihrem Haus wohnte, mußte jetzt umziehen“, berichtet Herbstlauben-Mitarbeiterin Kroggel. Selbst wenn sie nach einer Sanierung wieder zurückkönnten, machten das die wenigsten. „In diesem Alter zieht man einfach nicht zweimal um.“ Viele Senioren seien deshalb von Prenzlauer Berg nach Marzahn und Hellersdorf gezogen, dorthin, wo auch ihre Kinder mit den Familien wohnen. Zur Einsamkeit im Alter kommt die demographische Isolation.

„Um so wichtiger ist es, daß wir gemeinsam etwas unternehmen können“, sagt Marie Lehmann. Mit ihren 89 Jahren ist sie nicht nur eine der ältesten SeniorInnen in der Herbstlaube, sondern auch eine der kämpferischsten. „Die Seniorenheime der Stadt müssen erhalten werden“, fordert sie energisch, nicht ohne dabei politisch zu werden. „Für ein zivilisiertes Land, das eine führende Rolle in der Welt einnehmen will, ist es ein Armutszeugnis, wenn bei denen gekürzt wird, die sich am wenigsten wehren können.“ Marie Lehmann, Helene Breuel und Irmgard Hähnel wissen, wovon sie sprechen. Zum 15. Oktober laufen die acht ABM-Stellen der Herbstlaube aus. Eine Fortführung der „Maßnahme“ hatte das Arbeitsamt abgelehnt. Zwar sind weitere Stellen beantragt, „doch die Durststrecke, die entsteht, können wir kaum bewältigen“, sagt Mitarbeiterin Gabriele Kroggel.

„Es sind die kleinen Dinge, die mir die Herbstlaube so lieb machen“, sagt Helene Breuel. Die kleinen Dinge, das sind in der Dunckerstraße nicht nur ein Friseur, der regelmäßige Mittagstisch und die Ausflüge in den Spreewald oder das Oderbruch. Das sind auch die Konzerte, die im Sommer im Hof stattfinden, die gemeinsamen Theaterbesuche, vor allem aber ist es die Möglichkeit, jenseits des oft einsamen Alltags zusammensein zu können. Entsprechend kämpferisch sind die SeniorInnen. Für den morgigen Sonntag rufen sie zu einem Aktionstag zum Erhalt der Einrichtung auf.

Daß zu einem „zivilisierten Land“ manchmal auch ziviler Ungehorsam gehört, ist für viele Herbstlauben-Seniorinnen schon lange eine Selbstverständlichkeit. Um an der Duncker- Ecke Stargarder Straße Verkehrsberuhigung durchzusetzen, sind sie einmal mit weißen Klappstühlen losgezogen und haben die Kreuzung blockiert. Auch wenn im Bezirksamt Prenzlauer Berg eine Armutskonferenz stattfindet, sind viele dabei.

Auf ihr Dasein als Rentnerinnen wollen Helene Breuel, Marie Lehmann und Irmgard Hähnel ihr Leben nicht reduziert wissen, auch nicht auf die Debatten um die Höhe der Renten. „Gerade die Rentenerhöhungen gehören ja zu den Dingen, die sich nach der Wende auch zum Positiven entwickelt haben“, sagt Helene Breuel. Doch die Rente ist eben nicht alles. Je altenfeindlicher die städtische Umgebung wird, desto wichtiger ist der Erhalt der Treffpunkte. Treffpunkte, an denen sie manchmal auch einfach nur singen können: „Die Gedanken sind frei.“