■ Bonn apart
: Rüschenblüschen gegen Stoiber

Wir beginnen mit einer wahren Geschichte. In diesen Tagen schreibt der Präsident einer Handwerkskammer einen Brief an Familienministerin Claudia Nolte. Darin bedankt er sich für ihre größte Leistung: Daß sie es geschafft hat, die Mehrwertsteuererhöhung zu verhindern. Schließlich könne sich das jetzt keine Regierung mehr leisten. Aber was weiß schon so ein Handwerkskammerpräsident?

Überlegen wir doch mal. Claudia Nolte ist 32 Jahre alt. Sie wiegt, sagen wir mal, 45 Gramm (Bonner Gewichtseinheit). Ein Hosenanzug in der Landschaft. Bis heute war ihr größter Erfolg die Förderung der heimischen Rüschenblusenproduktion.

Denken wir demgegenüber an das Kaliber der Macher an der Koalitionsspitze: Der Kanzler ist 67. CSU-Chef Theo Waigel hat ein Pfund schwere Augenbrauen. Und Wolfgang Gerhardt (der mit dt!), der Bundesvorsitzende der Partei, die in Bayern siebtstärkste Macht geworden ist, der na ja, jedenfalls wollten wir sagen, wo waren wir noch mal?

Kann es wirklich sein, daß eine Claudia Nolte derartige Persönlichkeiten kurz vor einer Bundestagswahl dazu bringt, ihre Steuerkonzeption über den Haufen zu werfen, indem sie ihnen den Verzicht auf eine höhere Mehrwertsteuer abtrotzt? Na bitte!

In Wirklichkeit war es so: Seit der Bayernwahl war der Wahlsieg wieder denkbar. Ministerpräsident Edmund Stoiber ist der neue Hoffnungsträger der Union. Kohl mußte befürchten, spätestens bei der übernächsten Bundestagswahl gegen Stoiber antreten zu müssen. Und ob er den standfesten Bajuwaren auch so leicht beiseite schieben kann wie Wolfgang Schäuble?

Kohl mußte handeln. Ein Bayer, ein Enkel von Franz Josef Strauß zumal, darf niemals Kanzler werden. Sonst wird der Euro wieder abgeschafft, Abtreibung mit Zuchthaus bestraft, und BMW fusioniert mit der Bundesregierung. Da noch lieber der Schröder, der ihn immer für seine historischen Verdienste lobt. Also schickte Kohl eine bedingungslose Getreue vor. Claudia Nolte. Womit das letzte große Rätsel unserer Zeit befriedigend gelöst wäre: Wie kommt es, daß ein Regierungsmitglied zehn Tage vor der Wahl penetrant die Wahrheit sagt? Markus Franz