Gewalt der Eltern ist oft prägend

■ Vor allem türkische Jugendliche reproduzieren später häusliche Prügel. Das elterliche Züchtigungsrecht sollte daher ersatzlos gestrichen werden, empfiehlt der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer b

Hannover (taz) – „Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter“ – mit diesem Thema befaßt sich der 24. Deutsche Jugendgerichtstag. In Hamburg beraten seit gestern mehr als 800 Jugendstaatsanwälte und -richter, Sozialarbeiter und Jugendgerichtshelfer darüber, wie man dem Anstieg der Gewaltkriminalität Jugendlicher begegnen kann. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFI) hat zum Kongreßteil „Prävention und Reaktion“ einen eigenen Forschungsbericht verfaßt.

Danach hat sich seit 1983 in Westdeutschland die Gewaltkriminalität von Kindern und Jugendlichen, die die Polizei in ihrer Tatverdächtigenstatistik erfaßt, um das 3,3fache erhöht. So faßte der Direktor des KFI, Christian Pfeiffer, gestern in der Eröffnungsveranstaltung des Jugendgerichtstages den wichtigsten Befund seines Forschungsberichtes zusammen.

Auf den ersten Blick erstaunen mag allerdings die Konsequenz sein, die Pfeiffer aus diesen Zahlen gezogen hat. Um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, in dem Gewalttaten Jugendlicher ihre Ursache haben, solle der Staat endlich „das elterliche Züchtigungsrecht ersatzlos streichen“, verlangte der Hannoversche Kriminologe. Damit könne der Staat selbst ein wichtiges Signal gegen Jugendgewalt setzen. Strafe, Ausgrenzung und Repression hätten Jugendliche, die durch Gewalt zur Gewalt sozialisiert würden, schon ihr Leben lang erfahren.

Daß Jugendliche in noch größerem Maße Opfer von Gewalt als Täter bei Gewalttaten sind, haben Pfeiffer und seine Forscher in ihrem Forschungsbericht zum Zentralthema des Jugendgerichtstages anhand der Ergebnisse von drei Untersuchungen des KFI herausgearbeitet. Zum einen ist „der Anstieg der Jugendgewalt fast vollständig zu Lasten Gleichaltriger und Jüngerer gegangen“. Das Risiko der westdeutschen Erwachsenen, Opfer einer Gewalttat zu werden, hat seit 1984 nur geringfügig zugenommen. Für die Senioren weist die polizeiliche Opferstatistik in den letzten fünf Jahren sogar ein leichtes Absinken dieses Risikos aus. Im gleichen Maße mit der Zunahme der Gewaltdelikte von Kindern und Jugendlichen, zu denen Raub, schwere Körperverletzungen bis hin zu Tötungsdelikten und Vergewaltigungen zählen, ist dagegen das Risiko von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden, selbst zum polizeilich registrierten Opfer zu werden, von etwa 0,3 Prozent auf knapp 1 Prozent angestiegen (von 1984 bis 1997). Nach einer Schülerbefragung, in der das KFI auch die nicht angezeigten Gewalttaten untersuchte, ist in Hannover, Hamburg, Stuttgart und Leipzig 1997 sogar jeder vierte Jugendliche Opfer von Delikten wie Raub, Körperverletzung oder Erpressung geworden.

Nach den Befunden von Pfeiffer ist allerdings „innerfamiliäre Gewalt für die Jugendlichen immer noch viel belastender“ als die Gewalt auf der Straße. Etwa 16 Prozent der befragten SchülerInnen wurden im vergangenen Jahr in der Familie Opfer schwerer Mißhandlungen oder massiver Prügelstrafen. Solche Gewalterfahrungen in der Familie verdreifachen die Wahrscheinlichkeit, selbst Gewalt auszuüben.

Nach Pfeiffers Befunden mußten türkische Jugendliche dreimal häufiger in ihren Familien Gewalt erleiden als deutsche Jugendliche. Aus solchen Gewalterfahrungen und den geringeren Bildungschancen erklärt sich, daß türkische Jugendliche und die aus dem ehemaligen Jugoslawien weitaus häufiger zu Tätern werden. Nach der Schülerbefragung haben eingewanderte Jugendliche nach eigenen Angaben doppelt soviel Gewalttaten begangen wie deutsche Jugendliche. Dies gilt allerdings nur für jugendliche Einwanderer, die bereits mehr als fünf Jahre in Deutschland leben oder hier geboren sind. Neuankömmlinge dagegen begehen nicht mehr Gewalttaten als ihre deutschen Altersgenossen.

Befunde, die für Pfeiffer auf das Mißlingen der Integration der Einwandererkinder verweisen, die schon länger hier leben oder hier geboren sind. Jürgen Voges