Der Kronprinz tadelt König Kohl

■ Acht Tage vor der Wahl wirft Wolfgang Schäuble seinem Kanzler vor, „politisch ungeschickt“ gewesen zu sein: Kohl hätte ihn nicht zum Nachfolger auf Abruf ernennen dürfen. „Zuviel Freundschaftsbekundung kann schaden“

Berlin (taz) – Claudia Nolte hat nach Ansicht ihres Chefs „eine Dummheit“ gemacht, als sie sich für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer aussprach. Die Familienministerin habe, erklärte Kanzler Kohl gestern, ihren Fehler nicht nur korrigiert, sondern auch eingesehen. Auch Helmut Kohl hat anscheinend eine Dummheit gemacht. Der Fraktionschef der Union, Wolfgang Schäuble, nennt es in der neuen Ausgabe des Playboy „politisch ungeschickt“, daß ihn Kohl zu seinem Nachfolger benannt hat. Es gebe in einer Demokratie keine Personalentscheidungen auf Vorrat, taxiert Schäuble die Halbwertszeit seiner Ernennung. „Sie müssen dann getroffen werden, wenn sie anstehen.“

Genau über diesen Zeitpunkt hatte es erst vor zwei Wochen einen Disput in der Union gegeben, der ebenfalls durch eine Interviewäußerung Schäubles entfacht worden war. Seinerzeit erklärte Kohl gegenüber der Zeit, er „kandidiere für vier Jahre“. Daraufhin interpretierte Schäuble, Kohl habe „ein Stück weit offen gelassen“, was innerhalb der vier Jahre passieren könne. Diese Äußerung Schäubles hatte in der Union zu Verärgerungen geführt, weil sie auf eine Rivalität in der Führungsspitze hinwies und erneut Zweifel an Kohls Absicht nährte, über die volle Legislaturperiode zu regieren.

Mutmaßungen über eine solche Rivalität erhalten durch Schäubles Interview mit dem Playboy neue Nahrung. Auf die Frage, was denn ungeschickt daran gewesen sei, daß Kohl ihn als Nachfolger nannte, antwortet Schäuble: „Zuviel Freundschaftsbekundung kann schaden.“ Er hält dem Kanzler das Beispiel der SPD vor: Die „hat uns doch mit dem Rivalenszenario Schröder/Lafontaine vorgemacht, wie es geht“. Das sei perfekte Regie gewesen. Schäuble dementierte in diesem Zusammenhang, daß ihn mit Kohl eine Männerfreundschaft verbinde. Sie kämen aus zwei Generationen, schon deshalb könne es keine Männerfreundschaft sein. Postwendend erklärte Kohl gestern, daß er den Begriff Männerfreundschaft nie verwendet habe. Er habe zu Schäuble eine „menschlich gute Beziehung“.

Diese Beziehung dürfte zumindest angespannt sein, seit Helmut Kohl Schäuble nach dem Leipziger Parteitag im Herbst letzten Jahres zu seinem Wunschnachfolger ernannte. Diese Erklärung war seinerzeit als Versuch interpretiert worden, den Fraktionsvorsitzenden, der auf dem Parteitag gefeiert worden war, einzubinden. Was diese Einbindung für ihn bedeutet, wurde Schäuble kurze Zeit später klar, als Kohl erklärte, daß er bis 2002 regieren wolle. Zudem war Schäubles Ernennung auf Widerspruch in der CSU gestoßen. Dabei wurden Zweifel laut, ob er als Rollstuhlfahrer zum Kanzleramt befähigt sei.

Diese Zweifel hat Schäuble offensiv ausgeräumt, indem seine Frau Ingeborg im August in einem Interview wegen der Behinderung von einer Kanzlerschaft abriet. Daraufhin sah sich die Union genötigt, Schäuble öffentlich die Kanzlertauglichkeit zu attestieren. Die CSU reagierte verärgert. CSU-Chef Waigel erklärte damals: „Wir wählen einen Kanzlerkandidaten, und der ist Kanzler.“

Je mehr jedoch auch in der Union die Zweifel zunehmen, daß Kohl nochmals Kanzler wird, desto zentraler wird die Rolle Schäubles. Vor vier Wochen hat Kohl erklärt, im Falle einer Niederlage den Parteivorsitz niederzulegen. Für diesen Fall soll es Absprachen zwischen Verteidigungsminister Volker Rühe und Schäuble über die Aufgabenteilung geben. Danach soll Schäuble im Falle einer Großen Koalition unter Führung der Union die Partei und die Regierung, Rühe die Fraktion führen. Unter SPD-Führung soll er Fraktions- und Parteiführung übernehmen, während Rühe Vizekanzler würde.

Während man sich in der Union bereits Gedanken über die Zeit nach Kohl macht, wischt dieser Gedanken an eine gleitende Machtübergabe nach dem 27. September beiseite. Auf die Frage nach seinem Lieblingsfilm antwortete er in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Gala: „High Noon“. Dieter Rulff