Kredite des Westens in Beamtentaschen gelandet

■ Chef des russischen Rechnungshofs beschuldigt den Staat der Mißwirtschaft

Moskau (taz) – Mehrere Milliarden Dollar der Westkredite an Rußland sind in dunkle Kanäle geflossen oder gänzlich versickert. Das behauptet der Chef des russischen Rechnungshofes, Wenjamin Sokolow. Dem Hauptschwundgrund Korruption folge die unsachgerechte Verwendung der Gelder. „Wir haben einen ziemlich großen Teil der Kredite überprüft. Es beschämt mich, zugeben zu müssen, daß mehrere Milliarden Dollar nicht wie beabsichtigt verwendet wurden und einige davon einfach gestohlen worden sind“, sagte Sokolow dem britischen Fernsehsender BBC.

Vor einigen Monaten hatte Sokolow den Internationalen Währungsfonds (IWF) über den regelmäßigen Mißbrauch der Kredite informiert. Solange es kein System strikter Finanzkontrolle gäbe, solle die Vergabe von Krediten eingestellt werden. Das hat der IWF allerdings überhört. Der Rechnungshof, so Sokolow, sei schlichtweg überfordert, „die großen Summen en détail zu überprüfen“. Unterdessen beschuldigte auch der russische Generalstaatsanwalt Juri Skuratow die russischen Zentralbank: Ein Teil des im Juli mit dem IWF vereinbarten Notkredits, dessen erste Tranche neun Milliarden Mark umfaßte, sei nicht korrekt verwendet worden. Die Zentralbank behauptete bisher, der Kredit sei durch die Stützungskäufe des trudelnden Rubels binnen weniger Tage verbraucht gewesen. Skuratow dazu: „Nicht alles war sauber“. Die Geschäfte der Notenbank mit Valuta und Staatsanleihen bedürften ebenfalls einer genaueren Überprüfung. Der ehemalige Zentralbankchef Sergej Dubinin reagierte erbost: „Ich hätte nicht erwartet, daß ein so hoher Beamter Anschuldigungen vorbringt, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind.“ Dubinin, der sein Amt vor zwei Wochen auf Druck des Parlaments und Präsident Jelzins niedergelegt hatte, nannte die Vorwürfe „grundlos und schlicht unverantwortlich“.

Die Veruntreuung von Staatsgeldern gehört in Rußland zum guten Ton. Die unübersichtliche Rechnungsführung erleichtert dem korrupten Beamtenapparat zudem den Zugriff. So nahm das Finanzministerium zum erstenmal in der russischen Geschichte im Frühjahr unter Premier Kirijenko überhaupt eine Inventarisierung des Staatseigentums vor. Zig fiktive Fonds und Institutionen, die mit Staatsgeldern versorgt worden waren, wurden dabei entdeckt. Dennoch scheint die jetzige Attacke auf den geschaßten Zentralbankchef politisch motiviert. Die abgewirtschaftete Elite sucht nach Schuldigen. Schließlich soll die neue Regierung unter Jewgeni Primakow ohne Altlasten in die Zukunft starten.

Deren Erfolgsaussichten, das Land aus der Krise zu führen, sehen düster aus. Zunächst half die Zentralbank am Freitag den insolventen Banken. Die Zentralbank lieh den Privatbanken Geld, damit sie ihre Schulden gegenüber Staat und Kunden begleichen konnten. Als Äquivalent kaufte die Zentralbank die Staatsanleihen zurück, die ihren Wert verloren hatten, nachdem der Staat im August seine Zahlungsunfähigkeit erklärt hatte. Von der Aktion profitieren nur Banken in Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg und Samara. Die Einzelheiten blieben zudem im dunklen. Anzunehmen ist, daß die Zentralbank Milliarden Rubel drucken ließ. Klaus-Helge Donath