Die Last-Minute-Wähler: Entschieden unentschieden

Eine Woche vor der Bundestagswahl sind rund ein Viertel aller WählerInnen noch unsicher, wem sie ihre Stimme geben wollen. Hinter der Unentschlossenheit steckt mehr, als man gemeinhin denkt, auf jeden Fall mehr als Protest. Ob Kohl oder Schröder, nur wem es gelingt, die Zaudernden zu mobilisieren, hat gute Chancen, die Wahlen zu gewinnen  ■ Von Patrik Schwarz

Es ist die Rede von einer Neigung, die hierzulande lange als anrüchig galt, als kleine Schwester der Charakterschwäche, als Ausdruck von Wankelmütigkeit im Angesicht der großen Fragen: Wer sich zur Unentschlossenheit bekannte, wer gestand, nicht zu wissen, wem er oder sie am Wahltag die Stimme gibt, mußte mit allseitigem Mißtrauen rechnen. Die Advokaten politischer Linientreue auf der Linken wie Rechten unterstellten den Unentschlossenen, sie seien die Drückeberger der Demokratie oder doch auf bestem Wege, in der Wahlkabine Unsinn anzustellen. Eine Woche vor der Bundestagswahl sind laut Umfragen zwischen 23 und 29 Prozent der Deutschen noch unentschlossen – und eine Ehrenrettung tut not.

Befragt man Meinungsforscher, räumen sie gleich zu Beginn mit zwei Vorurteilen über die geheimnisvollen Unschlüssigen auf: Es sind nicht die Freaks, und es sind nicht die Faschos. Zwar sind Last- Minute-Wähler noch nicht zur Mehrheit geworden, doch beobachten die Umfrageexperten eine Normalisierung des einstigen Ausnahmephänomens. Heute entscheidet sich ein deutlich größerer Teil der Wähler deutlich später als etwa in den achtziger Jahren. „Das sind nicht die Verdrossenen“, meint Dieter Walz vom Bielefelder Emnid-Institut, „und viele sind hochgradig informiert und interessiert.“ Wer seine Wahlentscheidung aufschiebt, ist statistisch gesehen keinesfalls dümmer als schnell entschlossene Bürger. Der Parteienforscher Richard Stöss von der FU Berlin kommt in einer Studie zur Sozial- und Bildungsstruktur von Unentschlossenen zum Ergebnis: „Kaum Auffälligkeiten“.

Weil auch die Politikverdrossenen kaum überdurchschnittlich stark vertreten sind, kommt etwa der oberste Meinungsforscher der CDU-nahen Konrad-Adenauer- Stiftung, Hans-Joachim Veen, zu einem freundlichen Urteil über Wähler, die warten: „Sie tun sich mit der Wahl schwer aus Skrupel, nicht aus Ressentiment.“ Gerade unpolitische Bürger seien häufig Traditionswähler, kreuzten aus alter Anhänglichkeit dieselben Namen immer wieder an. Ähnliches gilt offenbar für Protestwähler. „Die, die gegen alles sind“, hat Veen herausgefunden, „die haben sich bereits festgelegt. Wer gegen das System ist, weiß das relativ früh.“ Politologe Stöss stimmt zu: „Da ist nix mehr zu holen für Rechtsextreme.“

Wem also neigen die BürgerInnen mit der einst so kritisch beäugten Neigung letztendlich zu? „Wenn die sich mehrheitlich auf eine Seite schlagen würden“, spekuliert Emnid-Forscher Walz, „könnte dies die Bundestagswahl natürlich entscheiden.“ Doch die 23 bis 29 Prozent Unentschlossenen zierten sich, meint der Chef des Berliner Forsa-Institutes, Manfred Güllner, und unter Umständen würden nur 5 oder 6 Prozent dem Werben der Parteien in der Woche bis zur Wahl erliegen. Wahlentscheidend wird damit vor allem, welchem politischen Lager es besser gelingt, Unentschlossene davon abzuhalten, ins Lager der Nichtwähler zu wechseln.

Dabei sehen sich die Parteien diesmal einem besonders widerspenstigen Objekt gegenüber. „Die Gruppe, die wir im Auge haben, ist informierter als der Durchschnitt – und mißtrauischer“, sagt Forschungsdirektor Veen von der Adenauer-Stiftung. Vorteil für Veen: Nicht nur die Umfragen des Konrad-Adenauer-Hauses, sondern auch die Ergebnisse unabhängiger Institute zeigen, daß diese Klientel vorwiegend ehemalige CDU-Anhänger sind. „Unter den Unentschlossenen ist das Verhältnis von früheren Unionswählern zu SPD-Anhängern ziemlich genau 2:1“, sagt Forsa-Leiter Güllner. Was bedeutet die Zahl für die Chancen im Endspurt? „Das können Sie positiv oder negativ interpretieren“, meint Richard Stöss von der FU Berlin. Man könne sagen „Die SPD hat besser mobilisiert“, oder aber „die CDU hat die besseren Mobilisierungschancen“. Ihr Stammwählerpotential jedenfalls hat die SPD diesmal ausgeschöpft – anders als in früheren Bundestagswahlkämpfen.

Für die letzten sieben Tage vor der Entscheidung ergeben sich daraus in Stöss' Augen zwei einfache Wahlkampfstrategien: Die SPD, die Wähler von der Union abholen will, muß ihnen den Wechsel so leicht wie möglich machen und sollte bestenfalls dezentes Rouge auflegen. Für CDU und CSU gilt: Wer die eigenen Ex- Wähler zurückholen will, muß polarisieren.

Und in der Tat, spätestens seit dem verheerenden Abschneiden der SPD bei der Landtagswahl in Bayern prägt diese Taktik das Kohl-Lager: „Militant euphorisch“ gebe sich die Union seitdem, hat Forsa-Chef Güllner beobachtet – und man könnte hinzufügen „euphorisch militant“. Kein Zufall ist denn wohl auch, wenn der bayerische Innenminister Günter Beckstein (CSU) am Wochenende vor der Wahl publikumswirksam erklärt: Eher gehe die CSU in die Opposition, als einem Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft zuzustimmen.

In jedem Fall wird das Werben um die Zuneigung der Unschlüssigen drängender. Wahlforscher Veen rät seinen Parteifreunden, die Widerstrebenden mit sanfter Gewalt zu verführen: „Sie müssen die Chance zum Sieg als real darstellen, aber keineswegs als sicher. Und sie müssen den Zeitablauf dramatisch ins Bild heben, jeder Tag, der abläuft, macht die Entscheidung dringlicher.“ Doch Veens Kollegen glauben nicht recht an einen Erfolg seiner Tips: „Die laufen nicht von alleine zur Union zurück“, meint Dieter Walz von Emnid, „da müßte schon was passieren.“ Die Originaltöne sammelten Vera Gaserow, Heide Platen und Annette Rogalla