Schauspiel ohne Beispiel: Die ganze Nation als Jury

■ Die Mehrheit der US-Amerikaner will laut Umfragen gar nicht, daß die Clinton-Videos gezeigt werden. Trotzdem sind vier Fernsehanstalten in den Vereinigten Staaten sicher: Die EInschaltquoten stimmen heute, wenn der Präsident sich vier Stunden lang unter den Fragen von Kenneth Starr windet. Das Band wird zeitgleich mit einer Rede Clintons vor den Vereinten Nationen ausgestrahlt. TV-Tip für Voyeure in Deutschland: n-tv ab 15 Uhr, Phoenix 22.15 Uhr

Berlin (taz) – Von solchen Einschaltquoten kann manch einer nur träumen: Wenn in US-Fernsehsendern heute das Videoband von der Vernehmung Präsident Bill Clintons vor der Lewinsky-Untersuchungskommission gezeigt wird, wird mindestens jeder dritte US-Amerikaner vor dem Fernseher sitzen. Da tut es nichts zur Sache, daß noch immer 52 Prozent der Bevölkerung gegen die Veröffentlichung des Videos sind – auch viele von diesen werden neugierig gucken, wie ein Präsident ohne Maske aussieht.

Denn Bill Clinton vor der Jury, befragt zu Monica Lewinsky im Glauben, daß sein Auftritt nicht öffentlich sei – das ist doch ein TV-Erlebnis, so unberechenbar und prickelnd wie sonst nur Boxer, denen das Ohr abgebissen wird. Reality-TV aus dem Weißen Haus – das Publikum darf einen Präsidenten sehen, der die Fassung verliert, Stellungnahmen ohne Absprache mit seinen PR-Beratern stammelt, darf Clintonsche Verzweiflung, Ärger und Augenrollen im Original bewundern. Congress proudly presents: Bill Clinton in „Vor dem jüngsten Gericht“ – erstmals ungeschnitten und garantiert jugendgefährdend.

Neue Erkenntnisse erwartet sich davon niemand: Die Fakten von Clintons Aussagen stehen ohnehin im Starr-Report. Nein, was die USA erleben, ist die pure Lust an der Vorführung. Wie im Rausch treibt die republikanische Mehrheit die Demontage des einst mächtigsten Mannes der Welt voran, schafft Präzedenzfälle, ohne darüber groß nachzudenken, verändert nachhaltig das Verhältnis einer Nation zu ihrer obersten Führung. Wie sich das für die Konservativen selbst in Zukunft auswirkt, ist noch völlig unklar, sicher ist nur: Clinton erlebt heute eine Demütigung, die noch kein Präsident vor ihm erfahren mußte – und er kann sich nicht wehren.

Bislang haben ihm seine Feinde wenigstens die Möglichkeit gegeben, Gesichtszüge und Emotionen öffentlich unter Kontrolle zu behalten. So funktionierte die Spaltung der Persönlichkeit zumindest medial: Von dem Clinton, von dem Kenneth Starr böse Dinge behauptet, der auf abenteuerliche Weise Sexualpraktiken wegzudefinieren sucht und mit harten Bandagen gegen jeden kämpft, der sich ihm in den Weg stellt, gab es keine Bilder.

Der TV-Clinton war zumindest gefaßt, meist sogar recht entspannt und locker, ein Dorian Gray im Weißen Haus. Ab heute wird das geheime Bildnis öffentlich ausgestellt – und diese Bilder werden sich über jede zukünftige Amtshandlung des Präsidenten schieben, so wie schon heute die zeitgleiche Ausstrahlung des Videobandes seine Grundsatzrede vor den Vereinten Nationen überlagert.

Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte, zeigt die Veröffentlichung des Videobandes durch den Kongreß, wie stark sich das Machtzentrum in den USA bereits aus dem Weißen Haus wegverschoben hat, hin zu Kongreß und Justiz. Daß inzwischen immerhin 46 Prozent der US-Amerikaner der Meinung sind, Clinton sollte sich den Rücktritt ernsthaft überlegen, hat vor allem damit zu tun. Die US-Öffentlichkeit ist jetzt nicht puritanischer als vor vier Wochen. Sie verzeiht einem starken und politikfähigen Präsidenten seine privaten Affären und vielleicht sogar einen Meineid – eine lame duck aber, eine „lahme Ente“, die nichts mehr durchsetzen kann, muß den Thron räumen.

So ist denn auch in der Demontage der Figur des Präsidenten keinerlei emanzipatorischer Aufbruch zu erkennen, keinerlei gesunde Nivellierung der Macht- und Einflußbereiche zwischen den drei Staatsgewalten, die letztlich einen Demokratisierungsschub in den USA befördert. Im Gegenteil: Die US-Amerikaner wollen einen starken Präsidenten, wahrscheinlich mehr denn je. Von diesem mitunter belogen zu werden gehört dazu. Zukünftige Präsidenten werden sich, so die Ironie der Affäre, mehr erlauben können als bisher – die Medien weniger.

Denn das Vergehen, das Clinton den Kopf kosten wird, ist eben nicht, die Justiz bei ihren Ermittlungen behindert zu haben, sondern vielmehr, dabei erfolglos gewesen zu sein. Präsident der Vereinigten Staaten ist kein Job für Verlierer. Ein Präsident, der ein unpopuläres Ekel wie Ken Starr nicht los wird, kann für das Land nicht gut sein. Bernd Pickert

Bericht Seite 11, Feature Seite 13