Witz und Wahrhaftigkeit

Heute abend eröffnet das Filmfest Hamburg. Den Sinn muß jeder für sich selbst aus den über 100 meist exzellenten Beiträgen selektieren  ■ Von Christian Buß

Die Handkamera ist wieder da, und sie sprintet und schlenkert und wackelt wie seit den Siebzigern nicht mehr. Die Handkamera ist wieder da, und das meint natürlich, sie ist immer da: auf dem Klo, im Bett – auch dann, wenn die Schauspieler mal unkonzentriert sind. Und alles nur für ein bißchen Wahrhaftigkeit. Verantwortlich dafür sind zwei Dänen, der sehr bekannte Lars von Trier nämlich und der weniger bekannte Thomas Vinterberg. Die haben ein Manifest mit dem Titel „Dogma 95“ verfaßt, in dem sie konsequent der von Hollywood lancierten Künstlichkeit abschwören. Original-Ton, Original-Schauplätze und eine entfesselte Kamera sollen für Echtheit bürgen. Klar, das ist so naiv, als wolle man noch einmal das Springergebäude besetzen. Aber von Triers und Vinterbergs aus diesem Dogma geborene Werke gehören zu den spannendsten Beiträgen des Filmfests Hamburg.

Das „Dogma 95“ ist zwar rabiat formuliert, in seiner Sehnsucht nach echtem Leben aber eine sehr sentimentale Angelegenheit. Von Trier betitelt seinen Film Idioten und verfolgt einen Haufen respektloser Anarchos, die zwischen gelegentlichem Gruppensex schon mal auf Spastiker machen, um die Bedienung bürgerlicher Speiselokale auf die Probe zu stellen. Thomas Vinterbergs Film heißt Das Fest und erzählt eine überhaupt nicht neue Geschichte, nämlich die des Familientreffens, das zum großen Showdown wird. Während zwangsweise zu gleichen Teilen auf Cassavetes, Bergman und Tennessee Williams rekurriert wird, entladen sich unter ganz preisgünstigen Schockeffekten familiäre Spannungen. Am Ende steht das Oberhaupt des Clans als Kinderficker da.

Der Wille ist das wichtigste bei den beiden Dänen – und der Wille zur Authentizität ist sogar wichtiger als der Glaube daran. Das ist besonders im Zusammenhang mit dem Abschlußwerk des Filmfests interessant. Das stammt von Peter Weir, heißt The Truman Show, wurde in Hollywood produziert und durch dessen bestbezahlten Star getragen – rechnet aber mit allem ab, was für Leute wie von Trier und Vinterberg durch die Traumfabrik repräsentiert wird: die Simulation der Wirklichkeit. Jim Carrey spielt hier einen jungen Mann, der erfahren muß, daß das Leben um ihn herum nur eine riesige TV-Show ist. Was er auch macht, immer ist die Kamera auf ihn gerichtet, und die Fernsehnation sieht ihm begeistert zu. Für den Hollywood-Angestellten Weir ist Wahrhaftigkeit nur ein riesiger Witz, die Filmakademiker von Trier und Vinterberg wollen – kein Witz! – nur Wahrhaftigkeit.

Diese gar nicht unbedingt beabsichtigten Vernetzungen sind es, die Sinn bringen in die ansonsten schier unüberschaubare Kinoschau. Über 100 Arbeiten sind zu sichten, und die Qualität ist überragend. Zwar zeigen Festivalleiter Josef Wutz und seine Crew auch dieses Jahr kaum Uraufführungen – die sind weiterhin Cannes, Venedig oder Berlin vorbehalten –, doch sie kombinieren im Gegensatz zu den dürren Vorjahren echte Highlights anderer Festivals. Das macht die Veranstaltung, die heute mit dem historischen Psychogramm Elizabeth eröffnet wird, für die Filmwelt außerhalbs Hamburgs nicht unbedingt notwendig, aber für die Stadt unverzichtbar.

Die Stärke des Happenings liegt tatsächlich auch in seiner Quantität. Da kann sich jeder etwas rausfischen, die Unterteilung in inhaltliche Sek-tionen kommt indes als etwas bemühte Ordnungshilfe daher. „Spotlight Asien“ zum Beispiel ist schon eine sehr grobe Einteilung, zumal durch die schlummernde Filmproduktion Hongkongs fast alle relevanten Arbeiten aus Japan kommen. Und wer will schon „Francofolies“ sehen, wo doch jeder weiß, daß außer dem jährlichen Rohmer und Rivette kaum noch etwas von Bedeutung aus Frankreich kommt.

Da ist es anzuraten, sich innerhalb der Rubrik „Young Cinema“ und dem „Intersection“ betitelten Hauptprogramm eigene Schwerpunkte zu setzen. Zum Beispiel ließe sich anhand der Hamburger Produktionen Kurz und schmerzlos, Aprilkinder und Ich Chef, Du Turnschuh herausfinden, wie unterschiedlich Regisseure türkischer Herkunft Kulturtransfer im Kino betreiben. Und jetzt: Programm besorgen, selektieren, delektieren!

Heute, 19.30 Uhr, Cinemaxx: Eröffnung mit „Elizabeth“. Das Filmfest Hamburg läuft bis zum 30. September im Abaton, Cinemaxx, Metropolis, Zeise und 3001. Dort liegen auch die Programme aus.