Eine Partei ohne Mitte

Ein Leben ohne Helmut Kohl – eine taz-Serie (Teil 2). Verliert der Kanzler die Wahl, wird in CDU und CSU der Kampf um die Zukunft der Partei offen ausbrechen. Wie offen, das wird davon abhängen, wie eindeutig die Niederlage ausfällt  ■ Von Bettina Gaus

Zwei Männer stehen nebeneinander vor laufenden Kameras, aber nur auf einen richtet sich das gleißende Scheinwerferlicht. Das Gesicht des anderen bleibt im Dunkeln: ein Fernsehbild von hohem Symbolwert. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat die Landtagswahlen für die CSU gewonnen, er allein. Für seinen Parteivorsitzenden Theo Waigel interessiert sich kaum jemand an diesem Abend, an dem der Duodezfürst seinen bislang größten Erfolg feiern kann.

Den glücklosen Parteichef, der sich im fernen Bonn als Finanzminister so redlich mühte, wird eine Niederlage von Helmut Kohl bei den Bundestagswahlen in die politische Bedeutungslosigkeit stürzen lassen. Der Ministerpräsident muß dafür nicht einmal selbst zum Dolch greifen. Edmund Stoiber hat mehr als eine Landtagswahl für sich entschieden. Er hat die CSU auf den rechten Weg geführt – ohne, vielleicht sogar: gegen Helmut Kohl. Der Erfolg der christsozialen Schwesterpartei mag dem Kanzler bei den Demoskopen Auftrieb gegeben haben. Zugleich aber ist ein weiterer Stein aus dem Sockel seines Denkmals herausgebrochen.

Die Außensicht und die Innensicht der Unionsparteien klaffen weit auseinander. Das beginnt schon bei der Frage, was denn eigentlich unter einer Niederlage von Helmut Kohl zu verstehen ist. Er will Kanzler bleiben, gewiß, und dieses Wahlziel wird er wohl verfehlen. Das bisherige christlich-liberale Regierungsbündnis dürfte gemeinsam nicht über die absolute Mehrheit der Mandate verfügen, und für eine Große Koalition steht Kohl nicht zur Verfügung. Das hat er so oft betont, daß seine Partei ihn daran wird erinnern dürfen, sollte er es sich noch einmal anders überlegen.

Aber wenn es ihm gelingt, die Union zur stärksten Fraktion im nächsten Bundestag zu machen, dann kann er sich der Öffentlichkeit auch noch in der Niederlage als Sieger präsentieren. Dann wird ein alter Monarch vom Thron steigen und nicht ein geschlagener Regierungschef sein Büro räumen. An dem langgedienten Kronprinzen führt unter diesen Umständen kein Weg vorbei. Dazu ist Bayern denn doch nicht groß genug.

Helmut Kohl hinterließe Wolfgang Schäuble ein schweres Erbe. Innerhalb der Union würde ein Wahlergebnis nicht als Erfolg verstanden, das es erzwingt, die Macht mit erstarkten Sozialdemokraten statt mit der willfährigen FDP zu teilen. Der neue Kanzler wäre von Gnaden des Mannes an die Macht gelangt, zu dem er selbst in jüngerer Zeit mehr und mehr auf Distanz gegangen ist, und er hätte nicht einmal einen erfahrenen Fraktionschef an der Seite, der eine verunsicherte, oft zänkische Gruppe von Parlamentariern ebenso zusammenhalten kann wie er selbst.

Bisher stand Schäuble nur für die Verheißung eines Neuanfangs, nicht für deren Erfüllung. Als künftiger Bundeskanzler müßte er das stillschweigend gegebene Versprechen einlösen, mit ihm an der Spitze könne die Verkrustung aufgebrochen, der gesellschaftliche Stillstand überwunden werden. Was jedoch darunter zu verstehen ist, darüber gehen die Ansichten innerhalb der Union weit auseinander. Wie weit, das wissen derzeit möglicherweise nicht einmal die Beteiligten selbst.

Der Fall der Mauer 1989 hatte Helmut Kohl einen Zuwachs an Macht beschert, den bis dahin kein deutscher Bundeskanzler vor ihm hatte. In demselben Jahr war es ihm gelungen, einen Putschversuch aus den eigenen Reihen so nachhaltig niederzuzwingen, daß niemand seither einen neuerlichen Versuch gewagt hat. Damals haben die Unionsparteien damit aufgehört, gemeinsame Wege in streitbaren Diskussionen zu suchen. Zugleich zerbrach im Angesicht der historischen Entwicklung ihr stärkstes Bindeglied: der Kampf gegen den Kommunismus.

Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, die Rolle der Nation in einem vereinten Europa, die Definition staatlicher Aufgaben im Zeichen der Globalisierung – keine offene Grundsatzfrage haben CDU und CSU in den letzten Jahren mit einer ebenso grundsätzlichen Bestimmung des Kurses beantwortet. Das hat aus den Unionsparteien ein Zweckbündnis gemacht. In ihrer Mitte entstand ein Vakuum, das stetig wuchs. Was verbindet Bundesarbeitsminister Norbert Blüm mit dem Vorsitzenden der Jungen Union, Klaus Escher? Warum sind sie in derselben Partei?

Auch Macht ist eine feste Klammer. Sollte aber Helmut Kohl eine Niederlage erleiden, an der sich nichts deuteln ließe und in deren Folge die Unionsparteien nur Juniorpartner einer Großen Koalition sein dürften oder gar in die Opposition gezwungen würden, dann würde der Kampf um die Deutungsmacht mit noch größerer Schärfe entbrennen als unter einem Bundeskanzler Wolfgang Schäuble. Es ist fraglich, ob ihn am Ende diejenigen gewinnen werden, die heute in der zweiten Reihe stehen. In der Furcht vor dem Herrn oder aus Loyalität zu ihm haben sie lange nur so zögerlich eigenes Profil erkennen lassen, daß es schon an Feigheit grenzte.

Wolfgang Schäuble hat sich von Kohl auch dann noch allenfalls in eilig dementierten Halbsätzen abgegrenzt, als die großen Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden längst ein offenes Geheimnis waren. Volker Rühe, der für den Fall einer Großen Koalition als Außenminister und Vizekanzler gehandelt wird, hat sich jahrelang ausschließlich als Fachmann seines Verteidigungsministeriums geäußert. Der einstige Generalsekretär der CDU hat an Bedeutung gewonnen, aber nicht an Kenntlichkeit. Je nach Anlaß steht er heute für die liberale Linie seines unbedeutenden Hamburger Landesverbandes oder für den strammen Kurs der weit entfernten CSU. Die wird am Ende keinen Hanseaten auf das Schild heben. Da sei Stoiber vor.

Die lange Dauer der Kanzlerschaft von Helmut Kohl hat dazu geführt, daß inzwischen auch Politiker aus der dritten und vierten Reihe und vor allem aus den Landesverbänden in einem Alter sind, in dem ihnen der Gedanke an die Macht nicht mehr als vermessen erscheint. Arg wild waren die „Jungen Wilden“ nie. Inzwischen sind sie auch nicht mehr so jung. Die Unionsparteien gehen ohne Helmut Kohl einer Zeit des Übergangs entgegen. In der werden sich zunächst noch einmal Leute profilieren, die selbst den Zenit überschritten haben, aber als Symbolfiguren verschiedener Strömungen geeignet sind: Kurt Biedenkopf, vielleicht auch Lothar Späth, möglicherweise noch einmal Heiner Geißler.

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber gehört nicht in diese Reihe. Er hat der eigenen Partei Kontur verliehen, ohne Rücksicht auf die größere Schwester. Längst schon will die CSU endlich auch einmal den Kanzler stellen. Was ein Potentat ist und welche Huldigung er erwarten darf, das weiß Stoiber schon lange.

„Unser Programm heißt Franz Josef Strauß“, hat er einst als Generalsekretär das Profil seiner Partei definiert. Strauß ist tot. Es lebe Stoiber. Gelingt es ihm, auf dem bayerischen Weg nach Berlin zu gehen, dann wäre – ironischerweise – die Kontinuität der Union gesichert. In den letzten Jahren hieß deren Programm Helmut Kohl.