Schulz: „Das Volk hat auf die Hymne gepfiffen“

■ Der bündnisgrüne Fraktionsgeschäftsführer Werner Schulz hätte gern eine neue Nationalhymne. Kanzler Kohl und sein Adlatus Hintze freuen sich über das neue Wahlkampfthema

Berlin (taz) – Wenn es um nationale Symbolik geht, wird der Kanzler kategorisch: Einen „völlig indiskutablen Vorschlag“ habe der Herr Schulz da gemacht, sagte Helmut Kohl gestern in Bonn. Werner Schulz, parlamentarischer Geschäftsführer der Bündnisgrünen im Bundestag, hatte am Sonntag gefordert, worüber der Kanzler partout nicht diskutieren will: eine neue Nationalhymne für Deutschland.

„Zur Vollendung der inneren Einheit brauchen wir auch eine neue Hymne“, erklärte Schulz gegenüber der taz. Nach der Wiedervereinigung war im Zuge der Diskussion über eine neue deutsche Verfassung auch über eine neue Hymne diskutiert worden.

Am Sonntag hatte Schulz die Forderung nach einer neuen Hymne im Interview mit einer Nachrichtenagentur wieder aufgenommen. Sechs Tage vor der Bundestagswahl scheint der Union dieses Thema gerade recht zu kommen. „Unsere Nationalhymne war für Millionen Menschen hinter Mauer und Stacheldraht die Melodie der Freiheit, nach der sie sich im SED-Regime gesehnt haben“, dichtete CDU-Generalsekretär Peter Hintze rasch.

Auch Helmut Kohl sorgte sich um Identität und Liedgut der Deutschen. Eine neue Hymne sei „der Versuch, ein Stück Identität des Landes zu verändern“, so der Kanzler.

„Helmut Kohl ist ein peinlich schlechter Historiker“, erwidert Werner Schulz, „wenn er nicht merkt, daß unsere jetzige Hymne nicht stimmig ist.“ Helmut Kohl sei im November 1989 in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus ausgepfiffen worden, als er die Nationalhymne angestimmt habe.

Schulz: „Das Volk hat kurz nach dem Mauerfall auf die Hymne gepfiffen. Das vergesse ich nie.“ Schon in der ersten frei gewählten Volkskammer forderte Schulz eine neue Hymne für ein vereintes Deutschland. Heute sei ein Ersatz der jetzigen Hymne aber dringender denn je. Diese berge nämlich einen „enormen Sprengstoff“. „Die neuen Rechten singen heute schon die erste Strophe bei ihren Aufmärschen“, beklagt Schulz. Er könne sich nicht mit einer Hymne anfreunden, deren erste Strophe Rechtsradikale und deren dritte Strophe Konservative singen würden. „Wir dürfen das nationale Thema nicht den Rechten überlassen“, fordert Schulz. Als „Verfassungspatriot“ fordere er eine „singbare Hymne“. Für bestens geeignet hält der Bündnisgrüne und Ostdeutsche Schulz die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht. „Diese Hymne verarbeitet die Erfahrungen von Faschismus und zwei Weltkriegen. Sie spiegelt die Brüche unserer deutschen Identität.“ Robin Alexander