Nicht ausreichend begründet

■ betr.: „Interview mit Karl-Heinz Dellwo", Petra Groll, taz mag vom 27. / 28. 6. 98, S. II - V

In dem langen Interview mit Karl-Heinz Dellwo [...] sind aus unserer Sicht viele Themen für die heute anstehende Auseinandersetzung angeschnitten worden. Wenigstens auf eines wollen wir heute endlich reagieren.

Seit dem Hungerstreik der Gefangenen aus RAF und Widerstand im Frühjahr 1989 setzen wir uns für eine gesellschaftliche Diskussion unter ihrer Beteiligung ein. Das Interview ist für uns ein Beitrag in diesem Prozeß. Auch wir fragen uns: Mußte sich die damalige Konfrontation in eine/n solch ausweglosen „Krieg“ bzw. „Niederlage“ zuspitzen? Welche Alternativen hättte es dazu gegeben, bzw. was sind die Möglichkeiten heute? Zu kurz scheint uns in dieser Betrachtung der Konfrontation Staat — RAF die Beachtung der Gesellschaft in ihrer ganzen Bandbreite zu kommen, auch im jetzigen Blickwinkel Dellwos. — In dem Interview äußert er Zweifel, daß die Gefangenen aus der RAF im Herbst 1977 im Stammheimer Gefängnis ermordet wurden. Wir sind jedoch nicht bereit, unsere Zweifel an der Selbstmordversion allzu schnell beiseite schieben zu lassen. Es geht uns nicht darum, diese Frage zu tabuisieren, doch sehen wir seine Meinung nicht ausreichend begründet.

Für uns ist der Verdacht des staatlich angeordneten dreifachen Mordes an Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe und eines versuchten Mordes an Irmgard Möller nicht unbegründet. Im Einzelnen:

1. Dellwo meint, eine solche Ermordung wäre für eine deutsche Nachkriegsregierung zu abträglich gewesen. Er berücksichtigt nicht, daß es keine rein deutsche Geheimdienstaktion war, sondern andere Geheimdienste wohl federführend waren. Dies legt sich angesichts der Anti-Nato bzw. Anti- USA-Aktionen der RAF dieser Zeit nahe. Wenn sich der CIA, wie jetzt die südafrikanische Wahrheitskommission als begründeten Verdacht bekanntgab, für berechtigt hielt, den UNO-Generalsekretär, Dag Hammarskjöld, zu ermorden, warum sollten dann die RAF- Gefangenen nicht in ihr Fadenkreuz geraten sein?

2. Es gab im Herbst 77 eine öffentliche Diskussion, ob man die RAF-Gefangenen töten dürfe, um weitere Geiselnahmen zu verhindern; auch verständnisvolle Stellungnahmen der Kirchen sind dokumentiert.

3. Dellwo sagt, die Gefangenen hätten „nachweislich“ über Waffen verfügt. Wir kennen die Quellen für seine Aussage nicht. Sollte er sich auf die Verurteilung der Rechtsanwälte Arndt und Neverla beziehen, die zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Waffenschmuggels ins Gefängnis verurteilt wurden? Unseres Wissens bestreiten beide diese Vorwürfe bis heute. Die Verurteilung kam ausschließlich durch die Aussagen eines Kronzeugen zustande. Die sie entlastenden Aussagen der damals kontrollierenden Beamten blieben unberücksichtigt.

4. Zur gleichen Zeit wurde bei Festnahmen regelmäßig durch die Polizei von der Schußwaffe Gebrauch gemacht, ohne Not und Vorwarnung, etwa nach dem Motto: Nur tote Gefangene sind wirklich Gefangene.

5. Dellwo berücksichtigt nicht die kritischen Ergegbnisse einer internationalen Untersuchungskommission, wie die Ausführungen von Pieter Bakker Schut, Stammheim, Kiel 1986 und Karl-Heinz Weidenhammer, „Selbstmord oder Mord?“, Kiel 1988

Soweit unsere Kritik. Wir möchten die Forderung Karl-Heinz Dellwos unterstreichen, daß es dringend geboten ist, alle vorhandenen Quellen zugänglich zu machen. Wir wünschen uns jetzt, nach 20 Jahren, daß die Zeitzeugen von den Hintergründen sprechen können. Uns geht es nicht um eine strafrechtliche Behandlung, sondern um das Begreifen der Geschichte und ein Lernen daraus. Wir erhoffen uns wenigstens von einigen aus dem großen und kleinen Krisenstab, Beratern und Gefängnisbeamten in Stammheim den Mut zum Erzählen - und viele Menschen, die nachfragen, damit die Quellen geöffnet und ausgewertet werden.

Etwa diplomatischen Schwierigkeiten sollte die BRD mit der Gelassenheit entgegensehen, wie sie die Wahrheitskommission Südafrikas mit ihrer Veröffentlichung an den Tag legte. Ziel einer gesellschaftlichen Diskussion bleibt die Suche nach einer wahrhaft menschengerechten Gesellschaft und der Weg dahin, heute mehr denn je. Dörthe Beyer, Hanns Heim, Christian Herwartz, Helma Nastali, Solveig Kelber, Bernhard Ullrich

P.S. Im Angehörigen-Info 211 vom 4. 9. 98 hat unterdessen der noch inhaftierte Gefangene aus der RAF, Rolf Heißler, zu Dellwos Aussagen fundiert Stellung bezogen. Im Interesse einer objektiven Information der Leserschaft ersuchen wir die taz, sich um eine Veröffentlichung dieses Beitrags in ihrem Blatt zu bemühen!