Patient in der Notaufnahme

Wie man die Wirtschafts- und Finanzkrise Rußlands lösen kann, vermag niemand zu sagen. Doch ein paar Strohhalme gibt es, an die sich die Regierung klammern kann  ■ Von Nicola Liebert

Berlin (taz) – „Was tun?“ fragte Lenin, als in seinem Heimatland das wirtschaftliche und politische Chaos herrschte. Er empfahl: Berufsrevolutionäre müßten das revolutionäre Bewußtsein in die Arbeiterklasse hineintragen. Heute regiert in Rußland erneut das Chaos. Aber „Lösungen habe ich auch keine“, bekennt der russische Zentralbankchef Viktor Geraschtschenko.

In der Diagnose der Misere besteht weitgehend Einigkeit. Der Staat ist überschuldet, wie auch die ganze Wirtschaft, vor allem das Bankensystem. Investiert wird nicht. Wer Geld hat, tauscht es lieber sofort in Dollar oder spekuliert. Die Privatisierung der Wirtschaft gilt in ihrer jetzigen Form als gescheitert. Die wenigsten Unternehmen nehmen noch Geld ein, die meisten rechnen mit Naturalien ab. Ein Rechtsstaat existiert nicht. Weder zahlt der Staat den Lohnempfängern, was ihnen zusteht, noch vermag er die Steuern einzutreiben, die ihm zustehen.

Die Ratschläge der Experten, wie die verfahrene Situation aufzulösen ist, gehen weit auseinander. Viele russische Politiker besinnen sich auf alte Rezepte wie die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Banken oder setzen darauf, die Finanznot durch neues Geld aus der Notenpresse zu beheben – so wie Anfang der Woche geschehen. Westliche Regierungen und der Internationale Währungsfonds (IWF) verschreiben dagegen ein stures Festhalten am Reformkurs. Der Staat soll sein Defizit verringern und die Steuern eintreiben, die Entwicklung des privaten Sektors fördern – und um Himmels willen die Inflation niedrig halten. Dem Weltwirtschaftsexperten Wolfram Schrettl vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erscheint Rußland angesichts solcher Rezepte wie ein Patient, der blutend in die Notaufnahme eingeliefert wird, und dem die Ärzte raten, er solle doch gesünder leben.

Die Situation ist so verfahren, daß Schrettl nur noch „Strohhalme“ ausmacht, an die sich die neue russische Regierung klammern könne. Ein solcher Strohhalm sei auch die Einrichtung einer Währungsbehörde, die der letzte Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin vorschlug. Unter einem solchen System dürften nur so viele Rubel in Umlauf gebracht werden, wie Dollar- und andere Devisenreserven vorhanden sind. Allerdings glaubt Schrettl ebenso wie der Ökonom Ognian Hishow vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche Studien, daß der russischen Regierung die notwendige Finanzdisziplin dafür abgeht.

Über die Frage, ob der Staat seine Schulden mit frisch gedrucktem Geld bezahlen soll, sind die Experten gespalten. Eine Hyperinflation schade vor allem den Ärmsten – Rentnern etwa, die keine Dollars sammeln konnten – und untergrabe zudem vollends das Vertrauen von Investoren, warnt Peter Danylow vom Ostausschuß der deutschen Wirtschaft. Die russischen Unternehmen und Banken würden mit zusätzlichem Geld doch allenfalls spekulieren, statt investieren, glaubt Hishow.

Inflation muß kein Wirtschaftskiller sein

Paul Welfens vom Europäischen Institut für internationale Wirtschaftsbeziehungen hingegen verweist auf Polen. Die dortige Regierung sorgte für ausreichende Geldversorgung und nahm dafür Inflationsraten um die 30 Prozent hin. Dafür wuchs die Wirtschaft danach mit erfreulich hohen Raten.

Die Regierung in Moskau ist bei der Bekämpfung der Hyperinflation zu Beginn dieses Jahrzehnts jedenfalls übers Ziel hinausgeschossen und hat, so Schrettl, „die Wirtschaft ausgetrocknet“. Die ist notgedrungen auf Naturalwirtschaft ausgewichen. Selbst Steuern zahlten Firmen mitunter in Naturalien. Für Amusement sorgte der Fall einer Textilfirma, die statt dem Finanzamt Geld der örtlichen Polizei Socken lieferte. Schrettl hält es zum gegenwärtigen Zeitpunkt dennoch für einen Fehler, Geld in die Wirtschaft zu pumpen: „Wirft man die Geldpresse an, wird jeder neue Rubel doch sofort in Dollar umgetauscht.“

Dieses Problem ließe sich nur durch eine gänzlich unkapitalistische Zwangsmaßnahme umgehen: durch Kapitalverkehrskontrollen. Dann könnten die Russen keine Dollar mehr eintauschen, Devisenspekulation mit dem Rubel wäre verboten, Unternehmer könnten eingenommenes Geld nicht mehr außer Landes schaffen.

Sogar der Bankier Martin Kohlhaussen, als Chef der Commerzbank an freien Kapitalmärkten, sonst hochgradig interessiert, schlägt eine staatliche Devisenbewirtschaftung vor. Immerhin können die Befürworter auf die Erfahrungen der Bundesrepublik verweisen, die nach der Währungsreform 1948 freien Devisenhandel 13 Jahre lang nicht zuließ. Daß der IWF statt dessen Rußland die sofortige Öffnung seiner Kapitalmärkte verordnet hatte, bezeichnet Wolfgang Kartte, früher Chef des Bundeskartellamts und dann Berater der russischen Regierung, als „regelrecht bösartig, fast schon eine Vernichtungsstrategie“.

Selbst der Verstaatlichung von Firmen kann DIW-Weltwirtschafler Schrettl zähneknirschend etwas abgewinnen. Wenn jemand wie der reichste Russe, Boris Beresowski, „mit seinem Geld nur auf die Bahamas flüchtet, dann muß jemand anders ran“.

Daß in dem Reformprozeß auch zahlreiche Privatunternehmen pleite gehen halten die meisten Experten für unvermeidlich. Warum das durchaus sinnvoll sein kann, erklärt Hishow vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche Studien so: Jedes russische Unternehmen habe Forderungen an andere Firmen und sei seinerseits bei anderen verschuldet. Nur wenn die Regierung endlich bereit sei, den Bankrott kranker Unternehmen und Banken zuzulassen, werde sich klären, welche Unternehmen hoffnungslos überschuldet sind und welche für den Staat förderungswürdig sind.

Wenn keine der Therapien eingeleitet wird, wird dann die russische Bevölkerung vor die Hunde gehen? Wohl kaum, beruhigt DIW-Wissenschaftler Schrettl. Seit Jahr und Tag hätten Russen ihre Ersparnisse in Dollar umgetauscht, und den täglichen Lebensmittelbedarf können die meisten von ihnen zum Teil aus ihren Schrebergärten decken. „Die Russen haben gelernt, mit der Unfähigkeit ihrer Politiker zu leben. Sie haben sich davon längst unabhängig gemacht.“