Keine Reform, nirgends

Ein Leben ohne Helmut Kohl – eine taz-Serie (Teil 3). Das politische Denken in Deutschland ist weithin auf den Reformstau heruntergekommen. Der Begriff ist nur die Wort gewordene Unbeweglichkeit unserer Gesellschaft  ■ Von Claus Koch

Reformstau – das Wort klingt gewichtig. Am liebsten wird es von den beiden Großparteien ausgegeben. Es wartet da, so soll man sich wohl denken, ein ganzer Pulk von Reformen hinter einer Barriere, die von den anderen gebildet wird und von den sogenannten Strukturen – die ja immer schon verkrustet sind. Wenn man endlich an die Macht gekommen oder an ihr geblieben ist, wird man die Hindernisse beseitigen und den Reformen freien Lauf lassen. Jüngst ist man auf die Idee gekommen, daß das am besten zu zweit geht, in der Großen Koalition. Steuerreform, Rentenreform, Sozialstaatsumbau, der Stau muß aufgelöst werden. Um was zu erreichen? Da fällt die Antwort leicht. Denn es gibt nur die eine: den Standort wieder flottzumachen. Wenn man das richtig anstellt und aus dem Stau ist, kommen mit mehr Wachstum auch neue Arbeitsplätze heraus.

In diesem Wahlkampf war der Reformstau auf jenen Dreiklang beschränkt: Steuern, Renten, Neuordnung der Ansprüche an sozialstaatliche Hilfe. Anderes stand kaum im Stau, etwa die Bildung, die Justiz- und die Verwaltungsreform, das Gesundheitssystem, die Neugliederung des Bundes. Und noch nicht einmal auf Sichtweite zugelassen waren die großen Umverteilungsprobleme des nächsten Jahrzehnts: die immer weiter aufklaffende Schere der Einkommen und der Vermögen; die wuchernde Subventionierung zahlreicher Wirtschaftsbranchen, die auch zur Subventionierung der höchsten Einkommen ausschlägt; die überfällige Neubewertung der Alterseinkommen und der Lebensarbeitszeit in einem Land, das immer älter wird und immer mehr Arbeitsfähige, aber künstlich Frühvergreiste hervorbringt, also der Superstau Generationenvertrag. Europa gar und der schmerzhafte Wandel zu einer Marktgesellschaft – kein Thema, nicht im Stau.

Die Parole vom Reformstau kommt, die SPD plappert sie nur nach, von rechts. Es geht darum, die Stagnation durch das anhaltende Patt der Gruppeninteressen aufzubrechen. Doch der Begriff drückt selber Stagnation, Impotenz zur Reform aus. Der Reformstau ist nur die Wort gewordene Unbeweglichkeit, die Einfallslosigkeit der Polit- und Medienmaschine. Politiker und Parteien, die vom Reformstau sprechen, verstehen unter „Gesellschaft“ vor allem deren Funktionsfähigkeit, ihre Effizienz. Damit befinden sie sich im Einklang nicht nur mit den Repräsentanten der Wirtschaft, sondern auch der Mehrheit der Wähler. Auch Gewerkschafter denken nicht mehr anders. Das politische Denken in Deutschland ist weithin auf den Reformstau heruntergekommen.

Im Ernst will niemand Reformen, also die tiefgreifende Umgestaltung von Institutionen, die durch Erstarrung der Gesellschaft bedrohlich werden und dadurch Krisen heraufbeschwören können. Für Reform, gar die Wahrnehmung von Krise, ist hierzulande die politische Temperatur so schwach wie nur eh und je. Und die Parteien haben nicht das geringste Interesse daran, diese Temperatur steigen zu lassen. Dämpfung ist vielmehr ihre Strategie. Wehe, es käme wirklich energische Reformstimmung im Volke auf. Dann würde man bald feststellen, daß eine oder zwei Reformen nicht alleine kommen können. Und daß das, was da angeblich im Stau steht, an der Wurzel nicht gepackt werden darf. Und so lügenlächeln denn Politiker und Wähler im Staustillstand einander verständnisvoll zu. Einen Reformdruck, der ihnen politisch bedrohlich werden könnte, verspüren Regierung und Parteien heute so wenig wie vor zehn und zwanzig Jahren. Sie tun nur so, weil sich der Staat neue Geldquellen erschließen möchte. Gäbe es Hinreichendes in der Kasse, könnten sie keine Notwendigkeit zur Reform erblicken, also auch keinen Stau. Dieser aber wird genau dort plaziert, wo Reform ganz gewiß nicht unternommen werden kann, wo man dafür am ehesten mit Einsparungen weiterkommt.

Die Steuerreform zum Beispiel: Eine Reform ist damit von niemandem gemeint, nur eine Vereinfachung des Systems, von der alle profitieren sollen, ohne daß es jemandem weh tut. Gewiß wäre es nützlich, das Steuersystem durchsichtig zu machen, schon deswegen, weil die Debatte um soziale Gerechtigkeit und Umverteilung offener geführt werden könnte. Aber eine Reform wäre das noch lange nicht. Wollte man sie, müßte man die unzähligen Subventionsprivilegien wegräumen, von denen nur die Schwächsten nicht profitieren. Am meisten profitieren davon die ganz oben – die auch am lautesten nach Reform rufen. Selbst wenn man nur standortbeschränkt denken könnte: Eine Steuerreform, die den Kapitalbesitzern den Weg freimacht, unternehmerisch und riskant zu investieren statt in Spekulation und in Abschreibungsruinen, wäre politisch viel zu anstrengend, als daß sie gewagt werden könnte. Auch eine Große Koalition hätte nicht die Kraft dazu.

Oder die Renten. Eine Reform, die den Namen verdiente, kann heute kein Politiker wollen, der nicht selbstmordsüchtig ist. Ginge man nämlich ernsthaft daran, stünde man sogleich vor einer gewaltigen Staumauer, die man wegreißen müßte – um einer Flut Platz zu machen, in der man leicht ersaufen würde. Man müßte nämlich das ganze System der erworbenen – und durch den organisierten Arbeitskonflikt befestigten – Ansprüche und Berechtigungen außer Kraft setzen. Der Staat müßte dann als harter, gerechter und zugleich zukunftssichernder Neuverteiler auftreten. Das aber brächte ständig Umverteilungskämpfe mit sich, denen der fette und schwache Parteienstaat nicht gewachsen wäre.

Im stillen Kämmerlein geben das sogar Sozialpolitiker zu, und in spätestens sechs oder acht Jahren wird man auch dahin gelangt sein. Aber schon jetzt öffentlich daran denken und sich Spielraum verschaffen, damit man das Unvermeidliche anpacken kann – um Himmels willen. Dann müßte man nämlich eine neue Gerechtigkeitsordnung formulieren, und wer traut sich das schon? Statt dessen beschwören sie lieber – und geben es als Reform aus – die Stärkung der Eigenvorsorge, die nicht viel mehr ist als ein Papierdrachen.

Und so kann man es weiterdeklinieren. Einen Sozialstaatsumbau, der eine Reform wäre und nicht nur ein Abschneiden von Hilfsverpflichtungen, hat keine Partei im Sinn. Ebensowenig eine Gesundheitsreform, die nur etwas wert wäre, wenn sie harte Disziplinierungen für alle mit sich brächte und präventiven Zwang, um die wachsenden Ansprüche auf ein wachsendes Angebot durch den schnellen Fortschritt der Wissenschaft im Zaum zu halten.

Der Reformstau ist ein Fetisch, den sich der Polit- und Medienbetrieb aufgebaut hat, um seine Hilflosigkeit zu kaschieren. Im altgewordenen Wohlfahrtsstaat sind alle Gruppeninteressen hoffnungslos ineinander verkeilt und lassen nicht Kraft noch Atemraum, um das Unausweichliche halbwegs gerecht zu organisieren.

Deutschland hat vom heute verachteten Wohlfahrtsstaat ein starkes Gefüge von sozial- und rechtsstaatlichen Einrichtungen geerbt. Es konnte jahrzehntelang die immer stärkeren Schwankungen in der Zuteilung von Wachstumsertrag und Aufstiegschancen hinlänglich abfangen. Und Ungleichheit schreit einen in diesem Land ja auch nicht an. Die schon reichlich vorhandene Armut zu entdecken, muß man sich, wenigstens im Westen, etwas Mühe geben; Recht wird ordentlich gesprochen; Wählerdemokratie und Austausch der politischen Manager laufen in geschmierter Routine. Die große Mehrheit der (west-)deutschen Mittelklasse ist mit dem System einverstanden, das sogar den wilder werdenden Kapitalismus verdauen konnte – bis jetzt.

Doch dieses dichte System, in dem alle Röhren noch immer kommunizieren, hat eine große Schwäche: Da es als eine integrierte Fortschrittsmaschine gebaut ist, muß es, wenn dem Fortschritt der Antrieb ausgeht, als Ganzes stillstehen, also zurückfallen. Zugleich steht es unter kapitalistischem Leistungsdruck, und der drückt eben auch aufs Ganze. Dieses Ganze heißt im Neudeutsch-Speak zutreffend und gewalttätig-statisch „Standort“.

Im Standort ist man zusammengeschweißt, auch das paßt zu den Deutschen. Deswegen haben sie aber Angst vor Reformen, die zwangsläufig Unruhe bringen, Sicherheit wegnehmen. Und sie wählen keine Parteien oder Politiker, die ihnen die Notwendigkeit von Reformen vor Augen führen. Der Schluß daraus, was läßt sich erwarten? Die deutsche Sozial- und Wirtschaftsordnung, einst rheinischer Kapitalismus oder Modell Deutschland genannt, wird als Ganzes langsam regredieren, sich im Konsens anpassen an zunehmende Ungleichheit und relatives Ärmerwerden, auch ans Dümmerwerden. Denn das Drängeln zur Integration – die jahrzehntelang durch Wachstum garantiert war – macht unfähig zu Kritik und Konflikt. Eine Reform aber, die den Konflikt umgehen, nicht Privilegien wegnehmen und nicht umverteilen will, verdient den Namen nicht. Und deswegen gibt es in Deutschland auch keinen Reformstau.

Macht nichts, wir werden weiter auf ihn starren. Was da nebenbei den Bach hinuntergeht, braucht man dann nicht zu sehen.

Der Autor lebt als Publizist in Berlin