Rekord ist Mord

■ Florence Griffith-Joyner, die schnellste Frau der Welt, ist tot. Die Frage ist nicht nur, woran sie starb, sondern wofür. Hat sie mit 10,49 Sekunden auf 100 Meter Grenzen des Möglichen gesprengt? Ist dieser Rekord nun Denkmal oder Mahnmal? Oder ist er gar nicht erreichbar?

Astrid Kumbernuss bewies ein Näschen für Pietät. „Wenn ein Mensch gestorben ist“, sagte die Neubrandenburger Kugelstoß- Olympiasiegerin von 1996, „sollte man nicht Tod mit Doping in einen Zusammenhang bringen.“ Bloß nicht.

Das ist nicht ganz einfach, wenn es sich um die Sprint-Olympiasiegerin und –Weltrekordlerin Florence Griffith-Joyner handelt und die im Alter von 38 Jahren an einem Schlaganfall stirbt. über den Zusammenhang mit dem Mißbrauch von anabolen Steroiden wurde bereits 1996 spekuliert, als die ehemalige Höchstleistungssportlerin ein groß angekündigtes Comeback wegen eines ersten Schlaganfalls abbrechen mußte.

Helmut Digel, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, mag sich natürlich an Doping- Spekulationen nicht beteiligen, schließt aber andererseits aus diesem Tod, „daß sich Mediziner und Wissenschaftler noch eingehender mit Aus- und Nebenwirkungen unerlaubter Medikamente beschäftigen sollten.“

Vielleicht ist die Frage ja nicht nur, woran Griffith-Joyner gestorben ist – sondern wofür.

Wenn Primo Nebiolo, Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF sagt, Griffith-Joyner habe „die Welt in Seoul in Staunen versetzt“, dann ist das nicht einmal zynisch – das war so. Griffith-Joyner schien mit ihren Weltrekorden von Korea zunächst die gerne in den Sport projizierte Sehnsucht der Leute einzulösen, das menschliche Leistungsvermögen sei unbegrenzt steigerungsfähig. Allerdings nur für wenige Augenblicke. Inzwischen ist längst klar, daß sie für das Gegenteil steht.

Fast zeitgleich mit Griffith-Joyner ließ sich in Seoul der Sprinter Ben Johnson der Einnahme von Steroiden überführen. Das größer gewordene Bewußtsein und daraus resultierende Doping-Kontrollen führten dazu, daß die Höchstleistungen in der Frauen-Leichtathletik in den meisten Disziplinen stark zurückgegangen sind. Bei den Männer ging es bereits Mitte der 80er bergab. Die Möglichkeiten des menschlichen Körpers waren im Prinzip schon damals ausgeschöpft.

Das deutet darauf hin, daß die Grenzen zu diesem Zeitpunkt nur noch mit unerlaubten Mitteln gesprengt werden konnten. Es gibt einige Disziplinen, in denen die heute noch gültigen Weltrekorde so weit entfernt scheinen wie die Erde vom Mond – darunter jene des noch aktiven deutschen Diskuswerfers Jürgen Schult oder der deutschen Speerwerferin Petra Felke: Selbst letzterer gibt „der Tod in diesem Alter zu denken“.

Sprint ist aber etwas anderes als Wurf, und so hat die Leute nichts so bewegt wie die 10,49 Sekunden auf 100 Meter von Griffith-Joyner. „Der Weltrekord existiert nicht, er ist fiktiv“, sagte die französische Sprinterin Christine Arron: „Keine Frau kann so schnell laufen.“ Das war allerdings, bevor sie im August bei ihrem EM-Sieg ihre eigene Bestleistung auf 10,73 sec verbesserte. Melanie Paschke wiederum findet die Leistungsverbesserungen Arrons „erstaunlich“. Die deutsche Meisterin und EM- Fünfte symbolisiert die Problematik. Als dank deutschem Kontrollsystem relativ glaubhaftes „Fräulein Unschuld“ (Spiegel) war sie vor einigen Jahren noch gefeierte „Vorzeigeathletin der Nach-Doping-Generation“ – bis ihr die Konkurrenz wieder wegrannte – während für sie die elf Sekunden nicht unterbietbar waren.

DLV-Präsident Digel, für Branchenverhältnisse ein geradezu engagierter Dopingbekämpfer, sagt, Paschke sei „eine Weltklasse-Athletin“. Die Bedeutung dieser Aussage muß man in seinem Gesicht oder zwischen den Worten suchen. Da kann man sie auch unschwer finden.

Digel sagt auch, der Tod von Griffith-Joyner werde „mit Sicherheit eine erneute Diskussion um bestehende Weltrekorde auslösen“. Er will die Weltrekorde als sogenannten Jahrhundertrekord „einfrieren“. Damit müßte man niemanden bloßstellen oder die Branche offiziell ad absurdum führen – und könnte so tun, als fange alles noch einmal von vorn an.

Selbst der rekordgeile Leichtathletik-Pate Primo Nebiolo hat mit der Neukonzeption der europäischen Top-Serie Golden League zuletzt versucht, den Kitzel der Weltrekordjagd durch anderes uraltes Menschheitsinteresse zu ersetzen, der Jagd nach Goldbarren. Es funktioniert aber nicht – weil zu viele immer noch dem Rekord, der Grenzverschiebung huldigen.

Das Ganze kann man als Metapher für die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens und den Entwicklungsstand des Planeten sehen: Jeder weiß eigentlich, daß es nicht weiter vorwärts geht.

Es sei denn, es geht doch irgendwie weiter.

Es gibt da diese Frau. Ihr Name ist Marion Jones. Die Mission der US-Amerikanerin: Der Weltrekord über 100 Meter. Jones (22) hat Griffith-Joyner „damals im Fernsehen gesehen“. In Johannesburg hat sie zuletzt ihre persönliche 100-Meter-Bestleistung auf 10,65 Sekunden gesteigert. Nur eine Frau war jemals schneller.

10,49 Sekunden? „Ich glaube, daß es möglich ist, schneller zu laufen“, sagt Jones, „und ich hoffe, daß ich diejenige bin.“ Schon hält die Welt den Atem an: Vielleicht geht es doch. Vielleicht ist Jones sauber. Vielleicht spielt sie mal mit ihren Enkeln. Vielleicht wird alles gut?

Vielleicht ja. Aber eher nein. Peter Unfried