Der Duft der ganz kaputten Welt

Gleich zweimal „Zerbombt“ in Berliner Theatern. In der Baracke wird Sarah Kanes Brit-Theater-Schocker eins zu eins umgesetzt, im Tacheles zeitgemäß zerpflückt. Ein Vergleich zweier Endzeitinszenierungen  ■ Von Eva Behrendt

Die hybride Fickszene am Ende von „Shoppen und Ficken“ ist Legende. Jene endlosen fünf Minuten, in denen Marc den Strichjungen Gary als Liebesbeweis mit dem Küchenmesser penetriert, lösten tatsächlich einen Theaterschock aus. Nicht, weil auf der Bühne Ekliges angedeutet wurde, sondern aufgrund der verhängnisvollen Verknüpfung von Sex, Gewalt und Einsamkeit.

Mit der brutalitätsgesättigten Handlung ihres 1995 erschienenen Dramas „Zerbombt“ setzt die 27jährige Engländerin Sarah Kane noch einen drauf. Schauplatz westliche, zivilisierte Welt, drei Menschen im Hotel quälen einander in den Tod, während draußen ein Bürgerkrieg wütet. Nach zähem Aneinandervorbeigerede vergewaltigt der todkranke Journalist Ian seine Freundin, die Epileptikerin Cate. Folgerichtig wendet sich das Blatt nun gegen ihn, der, von einem traumatisierten Soldaten heimgesucht, gleichfalls vergewaltigt und gefoltert wird. Der Soldat beißt Ian die Augen aus und tötet sich selbst. Cate kehrt zurück mit einem verwaisten Baby, das stirbt und schließlich vom geblendeten Ian gefressen wird.

Solch ausgefeilte Genealogie der Gewalt vom Geschlechterkampf bis zur brachialen Aufarbeitung des Kriegstraumas reizt: Wie geht man mit einem Text um, der es wagt, das Äußerste an vorstellbaren psychischen und physischen Schrecken fürs Bühnenspiel zusammenzutragen? Zwei jüngere Regisseure – Rüdiger Burbach und Sebastian Hartmann – zeigten in der Baracke und im Tacheles je ihre Sicht auf denselben Text. Wegen lokaler Vorrechte mußte allerdings das Wehrtheater Hartmann seine Berlin-Premiere (die Inszenierung wurde bereits 1997 in der Leipziger Schaubühne Lindenfels gezeigt) einen Tag verschieben.

In der Baracke führt Rüdiger Burbach in einer kühnen Eins-zu- eins-Gleichung konsequent all das vor, was Kanes „ehrlichster Text“ in Regieanweisungen vorschreibt oder über Dialoge suggeriert. Mag sein, daß Burbach damit auf das katarthische Entsetzen zielt, welches ausgerechnet das profane „Als ob“-Spiel im Theaterpublikum auszulösen vermag. Für die Schauspieler erweist sich der totale Realismus jedoch sichtlich als Schwierigkeit.

Im Komfort-Garni-Interieur, das Stephan Fernau bis hin zum Betthupferl-After-Eight auf den Kopfkissen ausgetüftelt hat, müssen allerhand Requisiten sinngemäß bedient werden. Sven Walser als Ian muß so oft zwischen Champagnerkübel und Ginflasche hin- und hersaufen, daß er ganz vergißt, wenigstens ein bißchen betrunken auszusehen. Und Jule Böwe hat so wenige überflüssige Gesten zu vollführen (den Schinken vom Käsetoast trennen), daß ihr anfangs die Figur der naiv Mißbrauchten zum affektierten Dummerchen mißrät. Den Soldaten hat Burbach mit dem ebenso schmerbäuchig wie glatzköpfigen Hans Fleischmann erschreckend klischeehaft besetzt. Und soll man lachen, wenn Sven Walser künstlich-kunstvoll auf den Hotelteppich kackt? Soll man das ganz schlimm oder ganz mutig finden? Immerhin entlarvt die Inszenierung das Stück in seinem entschlußlosen Pendeln zwischen kommentarloser Anhäufung von Scheußlichkeiten und psychologisierender Ursachenkonstruktion.

Das Wehrtheater Hartmann, so scheint es, wäre auch ohne das Schlachtungsdrama prächtig zurechtgekommen. Ein Anlaß zum Spiel sind Sex und Gewalt aber allemal – „Zerbombt“ wird zeitgemäß zerpflückt, mit einer Portion alter und neuer Einfälle durchmixt und neu zusammengebastelt. Zum Auftakt gebiert Cate unter großem Gekichere ein Styropor-Ei, und als die Kinderüberraschung aufgeschlagen wird, liegt ein Revolver darin. Die eher platte Botschaft wird aber leichthändig serviert, und schon sind wir bei Ian und Cate: ein großtönender Derwisch und sein engelhaftes Gegenüber, das er verzweifelt in die Rolle des Weibchens zu ficken versucht.

Cordelia Wege und Guido Lambrecht spielen dabei körperlich und stimmlich so beherrscht, daß auch jenseits von Sprache und Requisiten Bilder der Gewalt entstehen, schöne, lustige und abscheuliche. Am elektrischen Lagerfeuer trösten sich Soldat (von Hartmann selbst gespielt) und Reporter etwa unterm Sternenhimmel und tauschen Mordpraktiken aus, als handele es sich um die ersten Fummelerfahrungen. So konkretisiert Hartmann Kanes schwammige These von der menschlichen Sexualität als Bedingung der Möglichkeit von Gewalt. Und ein zweites Erklärungsangebot wird am Ende auf die leere Bühne projiziert: „In einer Gesellschaft, die jedes Abenteuer abgeschafft hat, wird die Abschaffung dieser Gesellschaft zum einzig möglichen Abenteuer.“

Beide Inszenierungen greifen in ihren jeweils stärksten Momenten übrigens auf denselben filmischen Kniff zurück: die Simulation von Zeitraffung durch scharfe Lichtwechsel. Auch das Theater selbst entblößt in „Zerbombt“ also Macht und Ohnmacht seiner Möglichkeiten.

„Zerbombt“ von Sarah Kane. In der Baracke und unter der Regie von Rüdiger Burbach wieder am 16., 20., 26. und 31.10., 20 Uhr, Schumannstraße 10. Im Tacheles und unter der Regie von Sebastian Hartmann vielleicht auch wieder.